Leseprobe aus "Der Zauber der Edelsteine"

 

1543

Waldkirch

 

„Hilda! Spuck ihn aus, sofort“, sagte Emilia streng, doch ihre Base schluckte den Schusterpilz mit einem seligen Lächeln hinunter.
„Keine. Rohen. Pilze.“ Sie gab Hilda einen Klaps auf die kleine fleischige Hand, die nach dem nächsten Pilz greifen wollte. „Sie sind giftig, und du bekommst Bauchgrimmen davon. Nur wenn man sie kocht oder brät, kann man sie essen.“
„Hunger“, lachte Hilda.
„Ja, habe ich auch, aber wir müssen warten, bis alle da sind. Du kannst Zwiebeln schälen und in kleine Stücke hacken, ich schneide Speckstreifen“, schlug Emilia vor, die sich wunderte, wo ihre Mutter blieb.
„Hilda, hast du Eier geholt?“
Ihre Base nickte eifrig. „In den Keller gebracht.“
Plötzlich drangen Schreie durch die offenen Fenster herein. Emilia ließ das große Messer fallen und eilte hinaus auf die Straße, gefolgt von Hilda, die kaum hinterherkam. Weitere Menschen traten aus ihren Häusern und liefen in Richtung Gewerbekanal, der außerhalb der Ringmauer lag. Irgendetwas Schlimmes musste geschehen sein. Emilia gehörte zu den ersten, die bei der Schleife ankamen und starrte fassungslos auf die sich ihr bietende Szene. Mehrere Männer versuchten mittels dicker Balken ein Schleifrad anzuheben, das gut und gerne zwanzig Zentner wog, unter dem ein Mann zur Hälfte begraben lag. Ihre Gesichter waren vor Anstrengung verzerrt. Unmenschliches Gebrüll zerriss die Luft, und Emilia wurde eiskalt, als sie den dunkelbraunen Haarschopf ihres Bruders erkannte.
„Anton!“, kreischte sie und stürzte hinzu.
Hände griffen nach ihr, während von anderen Schleifhäusern weitere Männer herbeistürmten, um zu helfen.
„Bleib hier. Die Balierer tun alles, was sie können“, sagte Berta, die wenige Häuser entfernt von der Familie Winterhalter wohnte, und hielt sie fest. Jemand barg schluchzend das Gesicht an Emilias Rücken. Hilda. Sie fasste hinter sich und drückte ihre Base an sich. Antons Schmerzensschreie brachen abrupt ab. Entweder war er bewusstlos geworden oder tot.
„Alle mit anpacken. Eins, zwei, drei!“
Nur vage nahm Emilia die Befehle und das Ächzen der Männer wahr, die den tonnenschweren Stein anhoben. „Eilt euch, zieht ihn raus.“
Ein dumpfer Schlag folgte, der den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ, als das Schleifrad zurück auf die Erde fiel. Emilia löste sich von Hilda. „Bleib hier. Ich muss nach Anton sehen.“
Hilda klammerte sich an sie, krallte sich wimmernd an ihrem Rock fest.
„Geh nur, ich kümmere mich um sie“, erbot sich Berta Rombach.
Dankbar nickte Emilia ihr zu und löste sanft Hildas Hände.
„Lasst mich durch“, rief jemand, und Emilia erkannte Martha Hummel. Wann immer jemand erkrankte oder ein Kind zur Welt brachte, war sie zur Stelle. Die Umstehenden machten Platz für die Heilkundige und Emilia. Martha kniete sich neben Anton, nahm dessen Hand und fühlte nach dem Puls. Doch Emilia spürte, dass ihrem Bruder nicht mehr zu helfen war. Antons Gesicht war aschfahl. Seine Lippen hatten sich blau verfärbt, Unterleib und Beine waren durch das Gewicht des Schleifrads zerquetscht worden.
„Das Leben rinnt aus ihm heraus. Anton braucht einen Priester“, sagte Martha leise, „ich kann nichts mehr für ihn tun.“
Ein spitzer Schrei ertönte, und Emilia wandte den Kopf. Schnell lief sie ihrer Mutter entgegen, fing sie auf, bevor sie ohnmächtig wurde. Andere Frauen kamen ihr zu Hilfe, um Rosa aus Emilias Armen zu nehmen und sie sanft auf den Boden zu legen. Hilda hatte sich aus Bertas Griff gewunden, stolperte lauthals greinend herbei.
„Kann jemand einen Priester holen?“, fragte Emilia mit zitternder Stimme niemand bestimmten. Nur am Rande nahm sie wahr, dass Elias Rombach sich eilig entfernte, um ihrer Bitte nachzukommen, während eine der Frauen mit einem nassen Tuch Rosa die Stirn kühlte, die langsam wieder zu sich kam und sich aufhelfen ließ.
„Was ist mit Anton? Was ist mit meinem Sohn?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.

***

 

Erschöpft von den vergangenen Tagen, während derer fast ununterbrochen geredet worden war, kehrten Heinrich Winterhalter und seine Begleiter nach Waldkirch zurück. Unterwegs waren sie von einem kalten Regen und schneidendem Ostwind überrascht worden. Unerwartet hatte das bis dahin milde Herbstwetter umgeschlagen.
„Vater, gut, dass zu wieder da bist“, begrüßte ihn Emilia freudig. „Ich muss dich unbedingt etwas fragen.“
„Nicht jetzt, Emilia“, Heinrich Winterhalter wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. „Ich bin müde, durchgefroren und hungrig.“
„Soll ich zu Martha gehen, damit sie dir etwas gegen den Husten gibt?“
Ihr Vater winkte ab. „Ich steige jetzt in trockene Kleider und setze mich an den Kachelofen. Wo ist deine Mutter?“
„Wie du willst. Mutter ist mit Hilda nach Buchholz gegangen, um Käse zu verkaufen. Ich bringe dir einen Teller heiße Suppe und Brot in die Stube.“
Heinrich Winterhalter lächelte. „Du bist ein gutes Kind, Emilia.“
Während sie den Topf mit der kräftigen Brühe erhitzte, schnitt sie eine dicke Scheibe Speck für ihren Vater und gab sie dazu. Emilia sorgte sich um ihn. Sein seit längerem anhaltender Husten war schlimmer geworden, bestimmt war das nasskalte Wetter daran schuld. Jedoch litten viele Schleifer unter fortwährendem Husten, da sie immer den durch die Arbeit entstehenden Staub einatmeten. Hinzu kam die Bauchlage, die sie auf dem Kürass gezwungen waren einzunehmen und die ihre Lungen zusammenpresste. Viele Balierer wurden kaum älter als vierzig Jahre, und Heinrich Winterhalter zählte bereits einige Lenze mehr.
Was geschieht, wenn Vater stirbt?, fragte sie sich. Mutter und ich können die Schleife nicht betreiben, außer wir stellen einen Meister an. Dabei bin ich nicht einmal sicher, ob die Zunftordnung dies erlaubt. Nur allein von der Käseherstellung können wir vermutlich nicht leben.
Die Suppe brodelte, und Emilia nahm den Topf vom Herdfeuer. Dann schöpfte sie eine ordentliche Kelle davon auf einen Teller und brachte ihn mitsamt einem Stück Brot zu ihrem Vater, der sich am Kachelofen wärmte.
„Hier, ich habe noch Speck hineingegeben.“ Sie stellte das Essen auf den Tisch.
Dankbar sah er sie an.
„Geh und hol Wein und Becher, dann setz dich zu mir. Ich muss mit dir reden.“
Ein flaues Gefühl machte sich in Emilia breit, doch sie wagte nicht zu fragen, was er von ihr wollte. Nachdem sie das Gewünschte gebracht hatte, sah sie ihm schweigend dabei zu, wie er die Suppe löffelte, sich von dem Speck abschnitt und zwischendurch Brot aß. Ihr selbst war nicht nach essen zumute.
„Ich werde Paul als Gesellen einstellen, gleich in den nächsten Tagen wird er anfangen, sofern die Bruderschaft zustimmt.“
„Was? Aber, …“ Emilia war fassungslos.
„Schweig. Ich habe dies so mit seinem Vater vereinbart. Als Meistersohn muss er nicht zwingend auf Wanderschaft gehen. Das ist noch nicht alles, Emilia. Wenn Paul in den Meisterstand erhoben wird, werdet ihr heiraten.“
In ihrem linken Ohr summte plötzlich ein schrecklich hoher Ton, und sie verspürte eine Enge in ihrer Kehle.
„Es ist zu deinem Besten“, hörte sie ihren Vater wie von ferne sagen.
Emilia hielt es keinen Augenblick länger auf ihrem Platz aus. Mit einem Ruck schob sie den Stuhl zurück, sodass er krachend hintenüberfiel und floh aus der Stube.
„Emilia!“, brüllte ihr Vater und setzte ihr nach. An der Treppe bekam er sie am Ärmel zu fassen. Sein Gesicht war zorngerötet, und sie fürchtete, er könnte sie schlagen. Doch er tat nichts dergleichen, lediglich seine unterdrückte Wut spiegelte sich in seinen Augen wider.
„Wir sind wieder da“, hörten sie Rosa vom Hauseingang her rufen, gefolgt von Hildas fröhlichen ‚Daaaahaa‘.
Ihr Vater ließ sie los und warf ihr einen warnenden Blick zu. „Du kommst jetzt mit mir in die Stube, hast du mich verstanden?“
In Emilia tobte ein Kampf zwischen Gehorsam und Widersetzlichkeit, schließlich nickte sie und folgte ihm. Kaum hatten sie sich hingesetzt, erschienen die beiden Frauen, beinahe ebenso durchnässt wie der Vater zuvor.
„Heinrich, ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet“, freute sich Rosa und stellte sich vor den Kachelofen. „Es ist furchtbar draußen.“ Ihr Blick fiel auf den leeren Teller. „Ich sehe, du hast schon gespeist.“
„Ich konnte nicht warten, mir war eiskalt und der Hunger war zu groß“, erwiderte Heinrich.
Rosa sah von ihm zu Emilia und wieder zurück.
„Habt ihr gestritten? Emilia, was hast du angestellt?“
Emilia gab keine Antwort und sah zu Boden.
„Zieht euch trockene Sachen an und esst etwas, dann reden wir“, brummte Heinrich Winterhalter.
„Also?“, wollte Rosa wissen, während sie und Hilda ihre Suppen schlürften.
„Ich habe Eugen Gabler versprochen, Paul als Gesellen anzunehmen.“
„Das ist kein Grund, um zu streiten. Dein Vater ist der Herr im Haus und ihm obliegt es, Entscheidungen zu treffen.“ Missbilligend sah sie Emilia über den Rand ihres Weinbechers an.
Emilia gab keine Antwort, stierte vor sich hin.
„Was ihr nicht passt, ist, dass Eugen und ich übereingekommen sind, die beiden zu verheiraten, wenn Paul in Meisterstand tritt“, klärte Heinrich sie auf.
„Heirat, schön“, freute sich Hilda, die neben Emilia saß.
„Halt den Mund“, schnaubte Emilia giftig.
Ihre Base sah verstört aus, die Augen füllten sich mit Tränen. Emilia war sonst nie so böse zu ihr.
„Es reicht jetzt“, zischte Rosa sie an. „Hilda kann nichts dafür, nimm dich zusammen.“

1546

Idar

 

Zwei Tage später brachte ein Bote die Nachricht, Elias solle zum Schloss kommen. Schnaufend bewältigte er den steilen Anstieg in der Sonne, musste gar einmal innehalten, um Atem zu schöpfen. Oben angelangt brachte ein Bediensteter ihn zu Graf Wirich in die Schreibstube.
„Herzog Wilhelm lobt Eure Arbeit, Rombach. Er hat entschieden, dass er keinen weiteren Schleifer beauftragen will, um die restlichen Perlen zu fertigen. Euer Auftrag ist somit erfüllt“, begann er ohne Umschweife. Dann klopfte er mit der Rechten auf ein vor ihm auf dem Tisch liegendes Säckchen und schob es Elias zu. „Das ist der verdiente Lohn.“
„Habt Dank, aber er gebührt Künfflins Witwe.“ Er nahm den Beutel an sich.
„Nun, wie Ihr meint. Schließlich habt Ihr den überwiegenden Teil geleistet. Aber es ist nicht meine Aufgabe, dies zu entscheiden.“
Der Graf erhob sich, das Zeichen für Elias, sich zu entfernen.
„Verzeiht, Erlaucht, darf ich Euch um etwas bitten?“
„Sprecht.“
„Nun da Lorenz nicht mehr lebt, kann er kein Zeugnis über meine Arbeit ausstellen. Würdet Ihr mir die Gunst erweisen, ein paar Zeilen für mein weiteres Fortkommen in meinem Wanderbuch hinterlassen?“
„Das werde ich, Rombach. Bringt es morgen zu mir.“
Elias bedankte sich und zog das Büchlein hervor. „Hier ist es. Wenn Ihr also so gütig wärt.“
Wirichs Augen blitzten belustigt auf. „Ihr seid ein vorausschauender Mann, Rombach.“
„Nein, nur hoffnungsvoll.“
Der Graf lachte und nahm das kleine Buch an sich.
„Wartet draußen, ich lasse nach Euch schicken.“
Elias stieg die Treppe hinunter in den sonnenbeschienenen Hof. Wirich würde bestimmt nichts Schlechtes hineinschreiben, und das Lob eines Adligen würde ihm sicher sehr hilfreich bei der Suche nach einer neuen Stelle sein.
„Ihr seht nachdenklich aus, Elias“, hörte er eine sanfte Stimme hinter sich sagen. Als er sich umwandte, fand er sich Wirichs Frau Irmgard gegenüber.
„Erfreut Euch zu sehen, Gräfin“, lächelte er und verbeugte sich.
„Darf ich an Euren Gedanken teilhaben?“
„Ich überlege, wohin ich wohl gehen soll, um weiter die Schleifkunst zu verfeinern. Hier kann ich nicht bleiben.“
Sie zupfte unbewusst an ihrem Ohrgehänge, schwieg einen Moment. „Vielleicht solltet Ihr nach Antwerpen reisen.“
„Antwerpen? Ich weiß nicht einmal, wo genau das liegt.“
Irmgard lachte. „In den Spanischen Niederlanden. Es ist eine schwerreiche Handelsstadt mit Zugang zur Nordsee.“
„Wart Ihr schon einmal dort?“, wagte Elias zu fragen.
„Nein, aber die Kaufleute erzählen davon. Sämtliche Waren, die man sich vorstellen kann, werden dort gehandelt.“
„Und dort gibt es Schleifen?“
„Vor allem werden Diamanten geschliffen …“

 

 

 

Leseprobe aus "Der Meister der Karten"

                                                                                1478
                                                                Wolfenweiler

„Steh nicht faul rum, rühr lieber“, blaffte sein Vater ihn an und schlug Martin mit der flachen Hand in den Nacken.
Wie immer zu Martini wurden Schweine geschlachtet, denn der Novembertag markierte den Jahresabschluss für die Bauern, und es war kalt genug dafür, um Würste und Schinken herzustellen. Die Ernte war eingebracht, Kohl, Rüben, Äpfel und Birnen in den Kellern eingelagert.
Der sechsjährige Martin stand auf einem großen Stein und mühte sich mit dem langen schweren Holzstab, um das Blut unter die vorgekochten Schwarten und Zwiebeln, Salz und Gewürze zu rühren. Sein Magen hob sich ob des Geruchs, und wieder hielt er inne, legte den Kopf in den Nacken, sah zum Himmel und atmete tief durch. Er liebte diese Weite über sich. Oft stand er nachts heimlich auf und starrte aus dem Fenster, um den Mond und die Sterne zu betrachten. Wie viele es wohl von ihnen gab? Ob sie je einer gezählt hatte?
Grob wurde er an der Schulter gepackt und herumgedreht, der Stab entglitt seinen Händen, und schon hatte ihm sein Vater eine Maulschelle versetzt.
„Wenn du jetzt nicht rührst, dann endest du selbst im Topf. Hast du mich verstanden?“, schrie er, sein Gesicht rot vor Zorn.
Konrad Waldseemüller war der Metzger im Dorf und hatte an Martini alle Hände voll zu tun. Jeder musste mithelfen. Därme waren zu reinigen, um später der Wurst ein Zuhause zu geben, und das Fleisch musste in den Kaminrauch gehängt werden, um es für den Winter haltbar zu machen. Martins Vater war ein jähzorniger Mann und bei den Dorfbewohnern nicht wohl gelitten, aber er verstand sein Handwerk wie kein anderer. Die Tiere starben schnell und schmerzlos. Konrads Hiebe mit dem Beil und seine Schnitte mit dem scharfen Messer, um das Schwein zu zerteilen und das Fleisch von den Knochen zu lösen, saßen immer.
„Lass ihn zufrieden“, rief Margarethe und kam herbeigeeilt, als Konrad erneut die Hand hob. Sie fiel ihm in den Arm. Wutentbrannt fuhr er herum. „Das wagst du nicht noch einmal!“ Er gab seiner Frau eine gewaltige Ohrfeige.
„Mutter!“ Mit aufgerissenen Augen und vor Angst zitternd stand Martin neben dem Kessel.   
Konrad wollte seiner Frau gerade einen weiteren Schlag versetzen, als eine Stimme donnerte: „In Gottes Namen haltet ein, Waldseemüller.“ Wie aus dem Boden gestampft erschien Pfarrer Daniel, ein großer Mann mit breiten Schultern.
Konrad schnaubte, ließ Margarethe aber zufrieden, die sich die schmerzende Wange rieb. Martin drückte sich an sie.
„Nichts für ungut, Hochwürden, aber meine Familienangelegenheiten gehen Euch nichts an“, knurrte er. „Martin, hör auf zu heulen und mach weiter.“
Zu Martins Überraschung übernahm jedoch der Pfarrer den Stab und rührte das Blut unter. Der Junge staunte, wie leicht Daniel die kraftraubende Arbeit von der Hand ging. Es sah aus, als täte er nichts weiter, als einen Strohhalm in einem Becher Wasser zu bewegen.
„Was tut Ihr da?“, fragte Konrad verblüfft.
„Blut rühren, schließlich sollen die Würste ja heute noch fertig werden“, grinste der Geistliche.
„Wenn Ihr glaubt, Ihr bekommt davon etwas ab, täuscht Ihr Euch. Dieses Schwein ist nur für mich gestorben und nicht wie der Heiland für uns alle.“ Konrad nahm das scharfe Messer und durchtrennte ein paar Sehnen.
„Hütet Eure ketzerische Zunge“, fuhr der Pfarrer den Metzgermeister an und bedachte ihn mit einem so zornigen Blick, der Martin erschauern ließ.

Auch sein Vater schien eingeschüchtert und senkte demütig den Kopf. „Vergebt mir, Hochwürden“, murmelte er. Dann sah er in den Kessel, befand, die Masse wäre gut vermengt. „Margarethe füll die Därme damit, Martin hilf deiner Mutter.“
„Ich sehe Euch am Samstag bei der Beichte, Waldseemüller, und am Sonntag bei der Messe“, verabschiedete sich der Pfarrer.
Martin sah ihm sehnsüchtig nach und wünschte, der Geistliche würde seinen Vater öfter in die Schranken weisen. Seufzend half er, das Gemisch in die gesäuberten Schweinedärme zu stopfen. Als alle gefüllt waren, band seine Mutter jede zweite Handbreit eine Schnur darum und zog sie fest. Nach und nach entstanden so gleich große Würste, die dann gekocht wurden. Später kamen auch sie zu den Schinken in den Kaminrauch. Während sein Vater weitere Schweine der Dorfbewohner schlachtete und zerteilte, kochten die Frauen Knochen aus, gaben kleinere Fleischreste, Wurzeln und Zwiebeln dazu. Platzten einige der Blut- und Leberwürste, landeten auch diese im Kessel. Waren alle Metzgerarbeiten erledigt, feierte man gemeinsam das Schlachtfest mit der sogenannten Metzelsuppe und frisch gebackenem Brot. Jeder der mithalf, bekam einen Teller ab.
Martins Magen knurrte, als ihm der Duft des dunklen Brotes in die Nase stieg, welches Agnes gerade aus dem Ofen holte. Agnes war die Witwe eines Schuhmachermeisters und nächste Nachbarin der Waldseemüllers. Nach dem Tod ihres Mannes war sie in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und lebte bei ihrem Bruder. Ihre beiden erwachsenen Söhne waren im nahen Freiburg geblieben und studierten dort an der Universität, wie sie nicht müde wurde, stolz zu erzählen. Martin mochte die pausbäckige alte Frau, die ihm immer freundlich begegnete und ihm hin und wieder Leckereien zusteckte.
„Du erinnerst mich an meinen dritten Sohn, Martin, den der Herr mir leider viel zu früh genommen hat“, hatte sie ihm vor einiger Zeit gesagt. „Johannes war ein kluger Junge mit ebenso kastanienbraunen Haaren und feingliedrig wie du. Ganz anders als Ludwig und Alfons. Die sind groß und stark, fast so wie unser Pfarrer Daniel.“
„Aber sie müssen doch trotzdem klug sein, wenn sie an der Universität studieren“, war Martins Antwort gewesen. „Also ist es gleich, ob man kräftig oder schwach ist, Hauptsache man kann lesen, schreiben und rechnen, und noch viel mehr.“
Lächelnd hatte Agnes ihm über den Kopf gestrichen. „Da hast du wohl recht, Martin. Du bist ein schlauer, kleiner Mann, und bestimmt wirst auch du einmal zur Universität gehen.“
„Ich glaube nicht“, hatte er traurig erwidert, „Vater erlaubt mir nicht zur Schule zu gehen.“

 

1493

Sevilla

 

 „Steh auf“, forderte er und riss gleichzeitig an Aurelias Haaren. Sie stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, kam auf die Füße und wich vor ihm zurück, während Berardi seine Hosen ein Stück hochzog. Aurelia näherte sich der Tür, bekam den Schlüssel zu fassen und drehte ihn im Schloss. Flink wie ein Wiesel packte er sie an der linken Hand und versetzte ihr mit seiner Rechten eine Ohrfeige.
„Ich habe dir nicht erlaubt, zu gehen, Aurelia. Wir sind noch nicht fertig.“ Ein böses Lächeln huschte über seine scharf geschnittenen Gesichtszüge.
„Señor, bitte nicht.“ Aurelia wusste, was ihr blühte, und ihre großen dunklen Augen weiteten sich.
„Señor, bitte nicht“, äffte er sie nach. „Aurelia, ich habe Grund zu feiern“, raunte er ihr ins Ohr. „Und du bist meine Auserwählte, um das gute Geschäft zu krönen.“
Angeekelt wandte sie ihren Kopf ab und vollführte blitzschnell eine halbe Drehung nach rechts, fuhr ihm mit den ausgestreckten Krallen durchs Gesicht. Juanoto grunzte verblüfft, ließ sie los und betastete seine rasierte Wange. Ungläubig starrte er auf seine blutigen Fingerspitzen. Noch nie hatte sie sich so gewehrt.
„Das wirst du mir büßen, du elendes Miststück“, schrie er, bekam sie erneut zu packen, bevor sie wieder die Tür erreichte. Wieder schlug er sie, so hart, dass sie taumelte. Im nächsten Augenblick lag sie bäuchlings über dem großen Schreibtisch, und der Kaufmann fesselte ihr mit seinem Gürtel die Hände hinter dem Rücken. Das Tintenfässchen fiel zu Boden, zersprang auf dem Steinboden. Aurelia zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und erntete einen Faustschlag auf den Hinterkopf, der sie erschlaffen ließ. Berardi schlug ihre Röcke hoch.
Als er von ihr abgelassen hatte, schlich Aurelia in ihre Kammer, die sie sich mit ihrer Tochter teilte. Vor zwölf Jahren hatte sie Berardis Kind empfangen. Elena war ein bildhübsches Mädchen, das die großen dunkelbraunen Augen und die dichten schwarzen Haare seiner Mutter geerbt hatte. Auch, wenn Elena eine Frucht der Gewalt war, liebte Aurelia sie von ganzem Herzen. Sie war ein aufgewecktes Kind, und selbst Elvira Berardi hatte irgendwann ihren Frieden mit Aurelia und Elena gemacht. Juanotos Gattin hatte erfahren müssen, was ihr Mann trieb, verachtete ihn, wagte aber keine Widerworte und gab die Duldsame. Elena wuchs mit ihren Halbgeschwistern Maria und Lorenzo auf. Maria war nur wenige Monate und Lorenzo ein gutes Jahr jünger als sie, und Elena erhielt die gleiche Kleidung und Bildung wie die beiden Kinder. Fünf Mal in der Woche erschien ein Hauslehrer, unterrichtete sie in Latein und brachte ihnen die Werke römischer Dichter näher. Elena wusste nicht, wer ihr Vater war, und so sollte es, wenn es nach Aurelia ging, auch bleiben. Sie hatte ihrer Tochter erzählt, ihr Vater wäre vor Elenas Geburt gestorben und ein entfernter Vetter von Berardi gewesen. Sie hätten sich geliebt, aber eine schreckliche Krankheit hätte ihn dahingerafft. Juanoto hätte ihr ein Dach über dem Kopf geboten und die Vormundschaft für Elena übernommen. Und deshalb nannte Elena Berardi tío Juanoto und seine Frau tía Elvira. Onkel und Tante.
„Momia“, rief Elena bestürzt und starrte auf Aurelias geschwollene und gerötete Wange. „Hat dir jemand wehgetan?“
Aurelia umfing ihre Tochter mit beiden Armen, die sich an sie drückte. „Nein, nein, mi niña, ich bin gestürzt. Es ist nicht schlimm“, log sie, obwohl ihre Wange schmerzte und wie Feuer brannte.
Elena legte den Kopf in den Nacken und sah zweifelnd zu ihr auf. „Ist das wahr? Ich gehe zu tío Juanoto, er wird den Schuldigen bestrafen.“
Bei der Vorstellung wie Berardi sich selbst auspeitschte, legte sich ein Lächeln auf Aurelias Gesicht. „Bestimmt, aber es gibt niemanden, den er züchtigen muss.“ Sie hauchte Elena einen Kuss auf die Stirn, dann machte sie sich behutsam von ihr los und tauchte ein Tuch in das kalte Wasser der Waschschüssel, wrang es aus und kühlte ihre Wange. „Solltest du nicht in der Stube sein und Kissen besticken?“
„Maria und ich haben uns gestritten, sie wollte mir nichts von dem roten Faden abgeben“, antwortete Elena und zog ein Gesicht.
„Dann nimm eine andere Farbe“, seufzte Aurelia. Der Schmerz ließ nach, dafür schien ihr Unterleib nun in Flammen zu stehen. Nur mühsam unterdrückte sie ein Stöhnen. „Geh zurück und mach deine Arbeit, Elena“, ordnete sie streng an.
Zerknirscht wandte sich ihre Tochter ab und verschwand. Aurelia kämpfte mit den Tränen und legte sich aufs Bett, versuchte, der Pein Herr zu werden. Heute war Berardi roher als sonst gewesen. Sie hätte sich besser nicht wehren sollen, das hatte alles noch schlimmer gemacht. Wie sie ihn hasste. Am liebsten wäre sie mit Elena einfach davongelaufen. Doch was dann? Zurück nach Hause konnte sie nicht. Vor vielen Jahren hatte sie ihrer Mutter geschrieben und ihr Leid geklagt. Doch die Antwort war ernüchternd gewesen.
Aurelia, wir sind Frauen und haben uns den Männern unterzuordnen. Du bist in einem guten Haus untergekommen, und dafür solltest du dich glücklich schätzen.
Die Zeilen hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Ihre Mutter hatte ihr untersagt, zurück nach Lissabon zu kommen, dort wäre kein Platz mehr für sie. Damals hatte sich Aurelia geschworen, eine bessere Mutter für Elena zu sein. Eine Mutter, die ihr Kind beschützte. Vielleicht würde Berardi irgendwann das Interesse an ihr verlieren, hoffte sie. Und bis dahin war sie bereit, ihn zu ertragen. Um Elenas Willen.

 

1493

Freiburg

 

 „Wir werden uns heute mit dem großen griechischen Gelehrten Ptolemaios beschäftigen“, eröffnete Reisch die Vorlesung. „Jeder von uns weiß, dass die Erde eine Kugelgestalt besitzt, nur wie begründete der Grieche diese? Er stützte sich auf die Betrachtung der Konstellationen am Himmel. Vermag jemand aus eurer Mitte dazu etwas zu sagen?“
Reisch hielt nicht wie die anderen Magister und Professoren nur einen Vortrag, sondern war darauf bedacht, seine Studenten miteinzubeziehen. Er hielt den Austausch untereinander für überaus wichtig und vertrat die Meinung, so lerne man mehr, als höre man nur zu.
„Menschen, die im Osten leben, sehen die Sonne früher aufgehen als die im Westen“, meldete sich Reinhard Andris, der neben Martin saß.
„Ganz richtig“, bestätigte Reisch und sah auffordernd in die Runde.
Martin hob die Hand.
„Nur zu, junger Freund“, ermunterte ihn der Magister, und Martin stand von seinem Platz auf.
„Mondfinsternisse werden unterschiedlich wahrgenommen. Ich meine, im Osten wird der Eintritt der Finsternis zu einer anderen Zeit beschrieben als im Westen, obwohl sie für alle gleichzeitig stattfindet. So besteht aber nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein örtlicher, sprich räumlicher Unterschied, und beide stehen in einem Verhältnis zueinander. Dies kann nur einen Schluss zulassen, nämlich den, dass die Erdoberfläche eine Krümmung erfährt und daher die Bedeckung des Mondes je nach Standort anders zu sehen ist. Ebenso wölbt sich die Erde in nord-südlicher Richtung, denn die Sterne des Nordhimmels zeigen sich im Süden nicht und umgekehrt. All diese Beobachtungen lassen nur den einzig logischen Schluss zu, dass die Erde die Gestalt einer glatten Kugel besitzt.“ Martin setzte sich mit klopfendem Herzen und sann darüber nach, ob er nicht wirres Zeug geredet hatte.
„Ausgezeichnet. Ich denke, Ihr habt bereits in seinem Werk ›Almagest‹ gelesen.“
Martin schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe mich mit Aristoteles und Sacrobosco beschäftigt.“
Reisch nickte wohlwollend. „Ihr habt alle gehört, was Martinus gesagt hat. Aber was ist mit den hohen Gebirgen? Ragen sie so weit empor, dass sie möglicherweise die Sicht versperren? Sind sie von solcher Höhe, dass sie wie riesige Spitzen auf der Oberfläche stehen und die Vorstellung einer glatten Kugel zunichtemachen?“
Frieder Haug, der ganz vorn saß, meldete sich.
„Ich würde sagen, ja. Mein Vater ist Kaufmann und hat mir von Gebirgen in Burgund erzählt, die so hoch seien, dass sie den Himmel berühren. Mit eigenen Augen hat er die Gipfel gesehen, obwohl er mindestens mehrere Tagesmärsche davon entfernt war.“
Reisch neigte den Kopf zur Seite. „Ihr wollt also damit sagen, dass die Ausführungen von Martinus nicht ganz richtig sind.“
Frieder wandte sich zu Martin und zuckte bedauernd mit den Schultern und nickte. „Aufgrund des Reiseberichts meines Vaters bin ich dieser Ansicht.“
Martin Waldseemüller verkniff sich ein spöttisches Grinsen. Die Erzählungen eines Kaufmannes ernster zu nehmen als die Erkenntnisse gelehrter Köpfe, erschien ihm mehr als albern, ja, es grenzte sogar beinahe an Dummheit. Aber er mochte Frieder und wollte ihn auf keinen Fall bloßstellen.
„Möchtet Ihr Euch dazu nicht äußern, Martinus?“, fragte Reich erstaunt.
„Nun, ein jeder hat das Recht auf seine Meinung“, antwortete er zögerlich, bevor ihm Karl Rebmann ins Wort fiel.
„Frieder, hast du mal darüber nachgedacht, dass die Berge, gleich wie hoch sie sein mögen, im Verhältnis zur gesamten Erdkugel so winzig erscheinen, dass sie nicht mehr sind wie ein Fliegenschiss auf einer Butzenscheibe?“

 

1493

Sevilla

 

„Hier ist eine weitere Forderung, die Schulden zu begleichen“, sagte Amerigo Vespucci mit düsterer Miene.
„Wer ist es dieses Mal?“, seufzte Berardi.
„Erhard Etzlaub, der Kompassmacher aus Nürnberg.“
Elena saß schweigend an einem kleinen Tisch in der Ecke des Schiffskontors und führte sorgfältig die Bücher. Nachdem sich Vespucci vor vier Wochen die Hand gebrochen hatte und nicht schreiben konnte, hatte sie sich erboten, dies für ihn zu übernehmen. Vespucci hatte sich zunächst ablehnend gezeigt, doch Elena hatte nicht lockergelassen.
„Glaubt mir, rechnen und schreiben kann ich sehr gut, fragt meinen Onkel. Zudem brauche ich eine Aufgabe, nur sticken und lesen oder im Garten wandeln, langweilt mich auf Dauer.“
Schließlich hatte Amerigo nachgegeben, nachdem sie unerwartet von tíu Juanoto unterstützt worden war. Seither saß sie täglich mehrere Stunden in der Schreibstube, und Vespucci wusste ihren Einsatz zu schätzen.
„Etzlaub? Er ist der Teuerste unter den Nürnbergern. Ihr hättet auch bei Hans Tucher einkaufen können“, erwiderte Berardi erbost.
„Etzlaub ist der Beste. Ihr habt mir freie Hand gegeben, um die Schiffe auszurüsten“, wehrte sich Amerigo.
„Ja, ja, doch damals konnte niemand ahnen, dass Alonso Fernández de Lugo uns übers Ohr haut. Dieser elende Hundsfott. Noch immer könnte ich ihn mit bloßen Händen erwürgen“, ereiferte sich der gebürtige Florentiner.
„Mäßigt Euch“, raunte Verspucci, „habt Ihr vergessen, dass Eure Nichte anwesend ist?“
Elena sah hoch. „Was hat dieser Mann getan, tíu Juanoto?“
„Er hat sich nicht an unseren Vertrag gehalten und schuldet uns eine Menge Geld …“, begann Berardi.
„Das wir nie bekommen werden“, warf Amerigo grimmig ein.
„Worum ging es bei diesem Abkommen?“, fragte Elena interessiert und steckte die Schreibfeder in ihre Halterung.
„Er hat König Ferdinando einen Handel abgerungen, an dem wir beteiligt waren. Sollte de Lugo innerhalb eines Jahres die Stämme der Isla de San Miguel de La Palma endgültig unterwerfen und das Eiland für die spanische Krone gewinnen, würde er zum Statthalter ernannt werden, siebenhunderttausend Maravedís erhalten und seinen Anteil an Gefangenen, um sie als Sklaven zu verkaufen.“
Elena wurde elend zumute. Tíu Juanoto sprach von Nairas Heimat.
„Es ist de Lugo auch gelungen. Nur hat er seinen Anteil behalten und den Rest, der uns zugestanden hätte, an den König zurückgegeben“, fuhr Berardi fort. „Ebenso hat er, wie mir zu Ohren kam, einhundertvierzig Sklaven verkauft, ohne uns zu beteiligen.“
„Warum hat er das getan? Ich meine, das Geld zurückgegeben?“ Und diese armen Menschen zu einem schrecklichen Schicksal verurteilt, fügte sie stumm hinzu. Unbewusst zupfte sie an ihrer schwarzen Mantilla.
„Weil er hofft, dadurch einen weiteren Auftrag zu bekommen, nämlich die Eroberung von Teneriffa. Sie ist die größte der Islas Canarias und noch immer in den Händen dieser Wilden. Dafür ist er bis nach Saragossa gereist, wo sich der Spanische Hof zurzeit aufhält“, erläuterte Vespucci.
„Wenigstens hat ihn der Kampf jede Menge Zähne gekostet“, lachte Berardi bitter. „Ein Stein hat ihn mitten in seine überhebliche Fratze getroffen, nachdem er und seine Gesellen in einen Hinterhalt gelockt wurden und sich daraufhin nach Gran Canaria zurückziehen mussten.“
Immerhin, dachte Elena. Aber das würde den Mann nicht aufhalten, so lange zu kämpfen, bis auch der letzte Bewohner Teneriffas das Haupt vor ihm beugte.
„Genug davon, Ihr solltet Euren hübschen Kopf nicht mit solchen Dingen belasten“, meinte Amerigo, brach ein weiteres Siegel und rollte mit den Augen. „Die nächste Forderung, unsere Schulden zu begleichen.“
„Das war zu erwarten. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu bezahlen und zu hoffen, dass Colón erfolgreich zurückkehrt“, brummte Berardi.

 

Leseprobe aus "Das Erbe derer von Thurn und Taxis"

1623

Brüssel

 

„Hat diese Zipollenjungfer dich endgültig deines Verstandes beraubt, so dass du nur noch mit deiner Rute denkst?“ Leonhard schäumte vor Wut. Seit geraumer Zeit unterhielt sein Vater eine Liebschaft mit der blutjungen Jolanda, die er mit teuren Geschenken überschüttete. Jetzt stand Leonhard II. von Taxis ihm im holzvertäfelten Brüsseler Kontor vor dem riesigen Schreibtisch mit den gedrechselten Beinen, den sein Großvater in Augsburg hatte fertigen lassen, gegenüber.
„Wie kannst du es wagen?“, herrschte sein Vater ihn mit zorngerötetem Gesicht an und hob den Arm, als wolle er zuschlagen.
„Du wirst deine Kraft noch für Jolanda brauchen“, bemerkte Leonhard höhnisch. Dann wandelte sich seine Miene. Aus Verachtung wurde Mitleid. „Denkst du auch mal an meine Mutter?“
Lamoral von Taxis ließ den Arm sinken.
„Genoveva ist eine alte Frau“, schnaubte er verächtlich. „Das Postamt in Frankfurt wird an Johann von den Birghden verpachtet, ob es dir gefällt oder nicht. Noch bin ich der Generalerbpostmeister, und nun scher dich raus.“
Leonhard blieb stur stehen. Da nannte sein Vater Genoveva eine alte Frau, völlig vergessend, selbst nur wenige Jahre jünger zu sein.
„Reicht es nicht, dass Jacob Henot das Kölner Postamt vom Kaiser wieder zugesprochen bekam und unser geschätzter Johann von Coesfeld das Feld räumen musste?“
Sein Vater schüttelte unwillig den Kopf.
„Ich habe mich mit Henot vertraglich geeinigt. Und von den Birghden ist ein guter und verlässlicher Mann, der viel zu Wege gebracht hat. Ihm haben wir die Einrichtung der Stafetten von Frankfurt bis nach Leipzig in Kursachsen und von Köln nach Hamburg zu verdanken.“
„Und uns hat er seinen Reichtum zu verdanken, vergiss das nicht. Innerhalb von zehn Jahren ist sein Vermögen um ein Vielfaches gestiegen. Das Haus ‚Zum Kranich‘, das er jüngst erworben hat, soll zweihunderttausend Gulden gekostet haben. Es sollte keine unabhängigen Postmeister geben, vielmehr muss alles von Brüssel aus gelenkt werden“, erwiderte Leonhard missmutig. „Johann von Coesfeld hat beim Kaiser auf meinen Rat hin ein Gesuch zur Wiedereinsetzung eingereicht.“
Lamoral sah ihn scharf an.
„Hattest du deine Finger im Spiel, als die kurmainzischen Räte von den Birghden in Aschaffenburg festsetzen ließen?“
„Und wenn? Er ist längst wieder ein freier Mann. Ich schätze eher, er hat diesen, wenn auch unfreiwilligen, Aufenthalt seinem protestantischen Glauben zu verdanken. Kurfürst Schweikard von Kronberg schätzt es ebenso wenig wie der Kaiser, wenn man dem Winterkönig zugeneigt ist.“
Leonhard spielte auf den protestantischen Wittelsbacher Kurfürsten Friedrich von der Pfalz an, der kurz vor Beginn des Krieges die böhmische Krone angenommen und sich damit gegen den Ferdinand II. gestellt hatte. König von Böhmen war Friedrich längst nicht mehr, der Spottname Winterkönig, den ihm der Kaiser gegeben hatte, aber war geblieben.
Fünf Jahre war es her, als die königlichen Statthalter unter der Führung des Grafen Heinrich Matthias von Thurn-Valsassina in der Prager Burg aus dem Fenster geworfen worden waren. Der böhmische Adel hatte genug von den Habsburgern und ihrer seit einem Jahrhundert währenden Herrschaft, zumal die Beschlüsse des Augsburger Religionsfriedens mehr und mehr unterlaufen wurden. Die Auflösung der Versammlung der protestantischen Stände hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, und ihre Vertreter waren nach Prag marschiert, um deutlich zu machen, was sie davon hielten.
Seitdem herrschte nicht nur in Böhmen Krieg, sondern auch im Süden Deutschlands, nachdem der Mönch Dominicus a Jesu Maria mit einem geschändeten Gemälde aus einem gebrandschatzten böhmischen Schloss im Lager der Kaiserlichen aufgetaucht war. Die Protestanten hätten der Mutter Gottes die Augen ausgestochen, behauptete er, was solch einen Zorn unter den Soldaten des Heerführers Graf Johann T’Serclaes von Tilly hervorgerufen hatte, dass sie die böhmischen Stellungen am Weißen Berg überrannten und den Sieg davontrugen. Von dort war von Tilly mit seinem Heer nach Westen gezogen und hatte die Städte Heidelberg und Mannheim erobert. Vor nicht allzu langer Zeit war dann auf dem Fürstentag in Regensburg Friedrich von der Pfalz die Kurfürstenwürde aberkannt worden. Diesen Titel trug nun Herzog Maximilian von Bayern, ein Gefolgsmann des Kaisers. Zudem war ihm die Oberpfalz zugesprochen worden, was den Unmut der protestantischen Kurfürsten erst recht hervorgerufen hatte. Die habsburgischen Truppen unter Graf von Tilly waren derweil nach Norden gewandert, um den Herzog von Braunschweig, den man den tollen Halberstädter nannte, einzuholen, bevor er in die Niederlande zum Winterkönig gelangen konnte, welcher sich dort im Exil befand.
Längst hatten die von Taxis erkannt, was ein Nachrichtendienst wert war. Schon seit mehr als einhundert Jahren stand die Familie in habsburgischen Diensten. Kaiser Maximilian I. hatte die Möglichkeit der taxischen Reitposten genutzt, und Franz von Taxis eine erste Stafette von Innsbruck bis nach Mechelen, sowie weitere nach Rom und Frankreich eingerichtet. Je schneller, je besser, war das Ziel gewesen und war es immer noch. Mehr und mehr Poststationen waren so im Laufe der Zeit entstanden, und aus den einzelnen West-Ost- und Nord-Südkursen war durch Querverbindungen ein regelrechtes Wegenetz entstanden.
Doch es waren viele Jahre der Ungewissheit und hoher Schulden gewesen, bis endlich Kaiser Matthias Leonhards Vater das Reichspostlehen als Mannlehen verliehen hatte. Bis zur Ausstellung dieses Lehensbriefes hätten sowohl der Kaiser, als auch der spanische König Philipp III., den von Taxis das Lehen entziehen können. Doch jetzt war es ein Erblehen. Der jetzige Kaiser, Ferdinand II., hatte es vor zwei Jahren gar um ein Weiberlehen erweitert, was bedeutete, auch Töchter konnten die Amtsnachfolge antreten. Leonhard von Taxis war seiner Frau Alexandrine noch immer dankbar dafür, war es doch ihr Einfall gewesen, darauf zu drängen. Nach seines Vaters Tod würde nun Leonhard oberster Postmeister im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in Burgund und den Spanischen Niederlanden werden. Es gab Tage wie heute, an denen er es nicht erwarten konnte.
„Ich hoffe, von den Birghden zahlt genügend Pacht, damit du Jolanda zufriedenstellen kannst.“ Leonhard wandte sich zum Gehen, die Türklinke bereits in der Hand.
„Sechshundert Reichstaler scheinen mir eine erkleckliche Summe, und nun verschwinde endlich“, brummte sein Vater und schenkte ihm einen finsteren Blick.

Gräfin Alexandrine von Taxis stand auf einem Podest vor dem großen Kristallspiegel in einem der vielen Zimmer, die das Brüsseler Palais beherbergte. Sie regte sich nicht, während der Schneidermeister und sein Lehrjunge letzte Hand an ihr neues Reitkleid legten. Alexandrine ritt im Herrensitz, auch wenn es verpönt war. Unter dem Kleid trug sie Breeches und lange Lederstiefel. Nur so konnte man sich zu Pferd in schnelleren Gangarten fortbewegen. Auch Elisabeth I., Diane de Poitiers, Johanna von Kastilien und noch viele andere Frauen hatten den Herrensitz vorgezogen und sich nicht darum geschert, ob deswegen hinter ihrem Rücken über sie getuschelt worden war.
„Ich hoffe, Ihr seid zufrieden, Comtesse“, presste Peer van Snijder hervor, zwischen dessen Lippen drei Nadeln klemmten.
„Verschluckt Euch nicht, Maître, es wäre zu schade um Euch“, lächelte Alexandrine. „Wie immer verehre ich Eure Handwerkskunst. Allerdings wünsche ich noch Stickereien an den Ärmeln, so erscheinen sie mir zu fade.“
„Sehr wohl, Comtesse. Dachtet Ihr an ein bestimmtes Muster?“ Peer van Snijder war nun besser zu verstehen, nachdem er die Nadeln in den noch zu kürzenden Saum gesteckt hatte. Ächzend richtete er sich auf und rieb sich die schmerzenden Knie.
„Joris, setz die Nadeln weiter ringsum im Abstand von einer grote palm“, wies er seinen Lehrjungen an, der bisher die Spitze an den Handgelenken festgesteckt hatte. Jetzt kniete sich der Junge vor Alexandrine und markierte jede Handbreit Rocksaum mit einer Nadel.
„Ich wünsche Windhunde“, beantwortete die Gräfin des Schneidermeisters Frage. „Sie sollen rund um den Ärmel dahinjagen.“
Van Snijder hob die Augenbrauen, dachte kurz nach. „Diese Arbeit wird meine Frau übernehmen, sie ist eine ausgezeichnete Stickerin.“
„Gut, seid Ihr dann für heute fertig?“
„Ja, Comtesse.“
Alexandrine stieg vom Podest, kaum dass Joris die letzte Nadel gesetzt hatte, und winkte ihrer Zofe, die stumm in der Ecke wartete.
„Louise, hilf mir beim Ausziehen.“ Sie zogen sich hinter den Wandschirm zurück, und vorsichtig stieg Alexandrine aus dem Rock, um nicht von einer der Nadeln gepiekt zu werden. Louise kam hinter dem Schirm hervor und reichte das Kleidungsstück dem Schneidermeister.
„Votre serviteur dévoué, Comtesse“, verabschiedete sich van Snijder und scheuchte seinen Lehrjungen vor sich her. „Los, los, Joris, wir müssen weiter zu Madame…“ Mehr war nicht mehr zu verstehen, denn die beiden Männer waren bereits aus dem Zimmer geeilt.
„Louise, bring mir das dunkelblaue Kleid mit dem hohen Samtkragen“, forderte Alexandrine.
Die Zofe half ihr hinein, ordnete die Falten über den drei verschiedenen Unterröcken. Wohlwollend betrachtete sich die Gräfin im Spiegel. Für ihre vierunddreißig Jahre sah sie bemerkenswert jung aus, und die Schwangerschaften hatten ihrer schlanken Figur nichts anhaben können.
Erst vor sieben Jahren hatte sie Leonhard II. von Taxis geheiratet und ihm zwei Kinder geboren. Genoveva Anna, benannt nach ihrer Großmutter, und Lamoral Claudius Franz, dessen Rufname an seinen Großvater erinnerte. Niemand hatte damals daran geglaubt, Alexandrine würde noch in den heiligen Stand der Ehe treten. Ihr Vater, Graf Philibert de Rye von Varax, war schon lange tot, gefallen in der Schlacht von Turnhout, ihre Mutter nur drei Jahre später gestorben. Elf war Alexandrine gewesen und standesgemäß schon als Stiftsdame ins einen Tagesritt von der Grafschaft Varax entfernte Mons aufgenommen zu werden, nur um gänzlich unverhofft den fünf Jahre jüngeren Leonhard zu ehelichen.
Sie war keine Schönheit, besaß nicht die feinen Züge einer Maria de‘ Medici oder deren Tochter, der spanischen Königin Isabella. Alexandrines Nase war zu groß geraten, ihr Mund zu breit, und der Amorbogen ihrer Oberlippe war kaum zu erkennen. Dafür besaß sie ein unwiderstehliches Lächeln, ein strahlendes graues Augenpaar mit langen seidigen Wimpern, und dunkelbraune Locken fielen bis knapp über die schmalen Schultern.
„Alexandrine, du wirst es nicht fassen.“
Leonhard kam mit gerötetem Gesicht hereingestürmt, gefolgt von seinem Windhund Vasco. Wie immer scherte er sich nicht darum, vorher anzuklopfen.
Alexandrine entstammte altem burgundischem Adel, war hochgebildet, sprach mehrere Sprachen fließend und wusste, was sich geziemte. Leonhards Benehmen dagegen ließ oft zu wünschen übrig. Oft hatte sie darüber nachgesonnen, ob er sie nur zur Frau genommen hatte, damit er irgendwann selbst einen Grafentitel erhielt.
„Hat dein Vater dich einmal mehr verärgert?“, fragte sie, ohne in ihren Betrachtungen innezuhalten. „Louise, die Perlenkette mit dem Topas, bitte.“
Die Zofe legte ihr die Kette um, und der goldgefasste Anhänger mit dem blauen Halbedelstein kam in Alexandrines Halsgrube zu liegen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Mundwinkel der Gräfin.
„Mein Vater hat van den Birghden die Frankfurter Station verpachtet. Ich habe den Eindruck, ihm entgleitet mehr und mehr die Führung, nur weil er jedem Rock hinterhersteigt“, erwiderte Leonhard aufgebracht.
Alexandrine wechselte einen Blick im Spiegel mit ihrem Gatten.
„Wie heißt sie dieses Mal?“, fragte sie fast gelangweilt.
„Jolanda, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Es macht mich fassungslos. Denkt er auch nur einmal an meine Mutter?“
Die Gräfin wandte sich um und bedeutete Louise, sie solle sich zurückziehen. Als die Zofe das Zimmer verlassen hatte, räusperte sich Alexandrine.
„Zwanzig? Sie werden immer jünger. Mon Dieu, dein Vater ist sechsundsechzig. Nun, deine Mutter ist seine Eskapaden gewohnt, ich glaube nicht, dass sie noch irgendeinen Gedanken an ihn verschwendet.“ Unbewusst spielte sie mit einer Haarlocke. „Warum bist du nicht längst unterwegs nach Wien?“
Leonhard ließ sich in einen Sessel fallen, neben ihn setzte sich Vasco, verharrte reglos wie eine Statue.
„Was meinst du damit?“ Er zupfte einige hellbraune Hundehaare von seinem schwarzen Wams.
Alexandrine rollte mit den Augen.
„Sprich mit dem Kaiser. Sag ihm, dein Vater verprasst dein Erbe. Es steht Lamoral nicht zu, ein Afterlehen zu vergeben. Ferdinand wird dies sicher nicht gefallen, zumal du der nächste Generalerbpostmeister sein wirst und Habsburg für die Postdienste bezahlt.“

1623

Frankfurt

 

„Silas, sieh dir dieses Pferd an. Was hältst du davon?“, fragte Karl von Maringer seinen Sohn. Von Mainz waren sie zum Frankfurter Rossmarkt gereist, um Pferde für den Reichserzkanzler zu erstehen.
Eigentlich war der zwanzigjährige Silas kein Spross seiner Lenden, aber er liebte ihn, als wäre sein eigen Fleisch und Blut. Nachdem die schwangere Magd Lina Hafner aus einem herrschaftlichen Haus in Umstadt geworfen worden war, hatte Karl sie geehelicht, obwohl sie keine standesgemäße Wahl gewesen war. Dem Oberstallmeister des Mainzer Kurfürsten, Erzbischof Johann Schweikard von Kronberg, hatte es nicht viel ausgemacht, dass die hübsche weizenblonde Frau nur eine einfache Magd war und zudem noch das Kind eines anderen unter ihrem Herzen trug. Hals über Kopf hatte er sich in Lina verliebt, als er einst zwei Pferde nach Umstadt gebracht hatte. Es war ein sehr heißer Tag gewesen, und Karl war in der gleißenden Sonne beinahe aus seinen Stiefeln gekippt. Lina, die in diesem Augenblick den Hof querte, hatte ihn bemerkt, ihm sogleich einen Krug mit verdünntem Wein zu trinken gegeben und ihm zu einer Bank im Schatten einer alten Buche geholfen. Und um Karl war es geschehen gewesen. Wer jedoch Silas gezeugt hatte, darüber hatte sich Lina immer ausgeschwiegen.
Prüfend betrachtete Silas den Rappen, der regungslos neben einem Händler stand und von diesem angepriesen wurde.
„Ein Prachtkerl, eines Königs würdig. Drei Jahre alt, kerngesund und schnell wie der Wind.“
Neben Silas und Karl umringten weitere Männer den Verkäufer und begutachteten den Wallach.
„Seinen Vater lobte schon Hofstallmeister de la Broue, der sagte, Fier sei das beste Blutpferd, das er jemals unter dem Sattel gehabt habe. Und noch immer versieht Fier seinen Dienst als Beschäler im Zuchtstall des französischen Königs“, warb der Mann für den Rappen.
„Der Kerl ist ein Rosstäuscher“, raunte Silas seinem Vater zu.
„Sag mir, was dich zu diesem Urteil bringt“, wollte Karl wissen.
„Ich kann in diesem Ross keinen Tropfen spanischen Blutes erkennen. Außerdem ist der arme Kerl nicht gesund, seine Augen sind trübe, und sieh nur, wie flach seine Atmung ist. Die Flanken bewegen sich schnell, aber kaum wahrnehmbar“, murmelte Silas.
„Zwanzig Reichstaler“, rief ein bärtiger Mann.
Der Verkäufer schüttelte ungläubig den Kopf. „Dafür bekommt Ihr vielleicht einen Huf dieses Prachtburschen.“
„Fünfundzwanzig“, bot ein weiterer Kerl.
„Meine Herren, vierzig sind das Mindeste“, gab der Pferdehändler zurück.
„Du hast ein gutes Auge, Silas“, murmelte Karl.
Silas von Maringer lächelte. „Das hast du mir beigebracht.“ Dann sah er wieder hinüber zu dem schwarzen Pferd.
„Ich biete fünfunddreißig.“ Ein gut gekleideter Mann mit einem Spitzbart hob die Rechte.
„Nicht genug“, erwiderte der Verkäufer. „Was ist mit Euch dort drüben? Ihr seid jung und scheint mir ein geübter Reiter zu sein, der mit einem solchen Ross umzugehen weiß.“ Er sah mit einem breiten, eine Zahnlücke enthüllenden Lächeln zu Silas und seinem Vater.
„Was sagtet Ihr noch, wie alt der Wallach ist?“ Silas fragte sich, wie man einem Mann ansehen konnte, ob er ein guter Reiter war, wenn er nur herumstand. Dummes Geschwätz, nichts weiter.
„Drei Jahre, jung und kräftig. Nur zu, seht ihn Euch genauer an.“ Der Mann winkte ihn herbei.
Silas schüttelte den Kopf. „Ich schaue mich lieber nach einem anderen Pferd um.“
„Ihr werdet kein Besseres finden, glaubt mir.“
Der Rappe prustete durch die Nüstern, aus einem Nasenloch rann eine hellgelbe, leicht schleimige Flüssigkeit.
„Gesund soll er sein? Dieses Pferd hat den Rotz, und ich würde einen Reichstaler darauf verwetten, dass er älter als drei Jahre ist“, gab Silas zurück.
„Wollt Ihr etwa behaupten, ich sage die Unwahrheit?“ Erbost starrte ihn der Mann an.
„Der Junge hat recht“, rief einer der Umstehenden, „das Ross ist nicht gesund. Sucht Euch andere, die Ihr täuschen könnt.“
„Und verschwindet, bevor der Gaul noch andere ansteckt“, forderte ein anderer.
Der Händler öffnete den Mund zur Erwiderung, sah sich aber plötzlich einem grimmig blickenden Dutzend Männer gegenüber, das drohend auf ihn zukam. Abwehrend hob er die Hände. „Ich gehe schon, aber seid versichert, er hat keinen Rotz.“ Dann machte er kehrt, zerrte den Rappen hinter sich her und verließ den Rossmarkt.
Karl und Silas wandten sich ab und schlenderten über den Markt. Plötzlich tippte jemand Silas von hinten auf die Schulter.
„Verzeiht, ich wollte mich bei Euch bedanken. Ihr habt mich vor einem Fehler bewahrt.“
Sie blieben stehen, drehten sich um und sahen sich dem gut gekleideten Mann mit dem Spitzbart gegenüber, der vorhin fünfunddreißig Reichstaler geboten hatte.
„Sehr freundlich von Euch“, erwiderte Silas, „ich habe nur gesagt, was ich dachte.“
„Ihr scheint Euch gut auszukennen, die anderen Herren haben den Mangel nicht bemerkt. Diethard Neustadt“, stellte er sich vor.
Karl nannte ihre Namen und lachte.
„Die Mitbieter hätten irgendwann festgestellt, dass sie belogen wurden, doch vermutlich zu spät. Ihr habt recht, mein Sohn kann schnell ein gutes Pferd von einem schlechten unterscheiden.“
„Was haltet Ihr davon, mir beim Pferdekauf zu helfen? Ich bezahle Euch gut“, schlug Diethard vor.
Silas und sein Vater wechselten einen Blick.
„Warum nicht? Was sucht Ihr für ein Ross? Ein Arbeitstier? Ein Ross für die Jagd oder für den Krieg?“, wollte Karl wissen.
„Pferde für die Poststation“, lautete die Antwort.
„Ihr arbeitet für die von Taxis?“ Neugierig musterte Silas den Mann.
„Für Johann von den Birghden, er ist der Postmeister von Frankfurt“, erwiderte Diethard.
„Wie viele Pferde braucht Ihr?“, fragte Karl.
„Zwei.“
„Was springt für uns dabei heraus?“, wollte Silas wissen.
Diethard Neustadt überlegte und rieb sich den Bart. „Ein Reichstaler.“
Karl hob die Augenbrauen. „Für jeden von uns.“
„Nein, für Euch beide“, wehrte der Mann ab.
Silas grinste. „Ich habe Euch davor bewahrt, fünfunddreißig Reichstaler für ein unbrauchbares Pferd auszugeben. Entweder für mich und meinen Vater je einen, oder Ihr müsst Euch auf Euren Pferdeverstand verlassen, mit dem es ja offenbar nicht weit her ist.“
Neustadt sah ihn verblüfft an und begann schallend zu lachen. „Ihr seid nicht nur ein Pferdekenner, sondern auch ein guter Verhandler. So sei es, Ihr bekommt das Geld.“
Zur Bekräftigung hielt er Silas die Hand hin und dieser schlug ein. Sie bahnten sich einen Weg durch die unzähligen Menschen, gingen vorbei an der Pferdeschwemme, wo Knechte durstige Tiere tränkten. Meist waren die Verkaufspferde an Pfählen angebunden, doch dazwischen gab es Gatter in denen sich manche Tiere frei bewegen konnten. Rund um den riesigen Rossmarkt hatten sich zahlreiche Gasthöfe angesiedelt, ebenso Buden, in denen Lederwaren wie Sättel und Zäume verkauft wurden. Aber auch andere Handwerke waren zu finden: Töpfer, Schmiede und Wagner.
Karl blieb stehen und deutete auf ein großes Gatter neben einer kleinen Sandbahn.
„Diese Rösser sollten wir uns ansehen.“
Sechs Pferde wurden innerhalb der Umzäunung gehalten. Trotz des um sie herum herrschenden Trubels standen sie gelassen da. Zwei Grauschimmel kraulten sich gegenseitig den Widerrist.
„Spanisches Blut“, sagte Silas mit leuchtenden Augen.
„Welches würdet Ihr auswählen?“, fragte Diethard.
„Auf den ersten Blick, den Apfelschimmel und den Dunkelfuchs“, antwortete Silas. „Doch ich möchte sehen, wie sie sich bewegen.“
Ohne ein weiteres Wort schritt Silas zum Gatter und auf einen kleinen, dürren Mann zu, der entspannt am Zaun lehnte. Gesicht und Unterarme waren sonnengebräunt, zahlreiche Fältchen um seine Mundwinkel vervielfältigten sich zu einem breiten Lächeln, als Silas ihn ansprach.
„Seid Ihr für diese Pferde zuständig?“
„Ja, ich bin Anton. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?“ Dunkle Augen blitzten unter dem schwarzen, teils ergrauten Schopf hervor.
„Ich möchte den Fuchs und den Apfelschimmel in Bewegung sehen.“
Anton nahm ein Zaumzeug von einem ins Holz geschlagenen Nagel, schob die untere Stange des Einlasses zurück und tauchte unter der oberen hindurch. Silas beobachtete den Alten, der sich dem Fuchs näherte. Ruhig strich dieser dem jungen Hengst über die Nase, zog ihm mit einer flüssigen Bewegung den Kopfzaum über die Ohren und schob das Gebiss zwischen die Zähne auf die zahnfreie Lade. Erfreut stellte Silas fest, dass es sich um ein, wie man es nannte, lindes Mundstück für ein zartes Maul handelte. Er mochte die oft scharfen Gebisse nicht, die viele Reiter nutzten. Willig kam der Dunkelfuchs mit. Silas nahm sich der oberen Stange an und ließ Anton mit dem Pferd hindurch. Dann verschloss er das Gatter. Inzwischen waren auch Neustadt und sein Vater hinzugekommen.
„Gebt ihn mir“, verlangte Silas. „Wie lautet sein Name?“
„Nabil“, antwortete Anton, während er eine Lederleine am Gebissring befestigte, die er anschließend Silas in die Hand drückte. Silas streichelte die samtweiche Nase, klopfte den Hals und führte Nabil zur Sandbahn. Die drei Männer folgten ihm, und nachdem Silas das Tier zwei Runden im Schritt gehen ließ, hob er die Hand. Nabil sprach sogleich darauf an und trabte schwungvoll los. Kurz darauf forderte Silas ihn zum Galopp auf. Was er sah, gefiel ihm. Er wechselte die Richtung, achtete genau auf jede Bewegung des Tieres.
„Das reicht, Silas“, rief sein Vater.
Das Pferd fiel in Schritt und blieb schließlich auf Silas‘ Kommando hin stehen. Zufrieden lächelnd lobte er den Fuchs. „Nabil, du bist nicht nur ein hübscher Kerl, sondern auch ein sehr gutes Pferd“, raunte er.
„Seid Ihr zufrieden?“, wollte Anton wissen.
„Wie alt sagtet Ihr, ist Nabil?“, fragte Karl.
„Er ist noch jung, kaum vier Jahre alt“, erwiderte der kleine drahtige Mann.
„Das ist zu jung“, mischte sich Diethard ein. „Ich brauche ältere Pferde, keine fast rohen, wie dieses hier. Was ist mit dem Apfelschimmel?“
Während die Männer sich unterhielten, sah Silas Nabil ins Maul. Die oberen Schneidezähne waren in Reibung mit ihren Gegenspielern im Unterkiefer getreten, die Eckzähne noch nicht, und die Hakenzähne waren gerade dabei, das Zahnfleisch zu durchbrechen. Nabils Verkäufer sprach die Wahrheit.
Anton brachte den Apfelschimmel, einen acht Jahre alten Wallach, und nach Begutachtung der Männer entschied sich Diethard Neustadt, das Pferd zu kaufen. Der Schimmel blieb in Antons Obhut, sie zogen weiter zu anderen Händlern, und Diethard erstand noch einen kleinen Braunen. Nachdem sie den Apfelschimmel bei Anton abgeholt und Neustadt bezahlt hatte, brachten sie beide Pferde in einem Mietstall unter. Diethard ließ die zwei versprochenen Reichstaler in Karls Handfläche klimpern.
„Als Dank für Eure Hilfe lade ich Euch noch auf einen Humpen Bier ein“, bot er an.
„Da sagen wir nicht Nein“, grinste Karl.
Kurze Zeit später saßen sie in einer Gaststube, jeder einen Krug Bier vor sich und redeten über den Krieg.
„Was denkt Ihr, wie lange das noch geht?“, fragte Karl.
Diethard zuckte mit den Schultern.
„Der Krieg wird bald vorüber sein. Tilly und Wallenstein schlagen die Protestanten zurück. Der tolle Halberstädter hat im vergangenen Jahr ordentlich einstecken müssen“, antwortete er. „Allerdings ist Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel noch nicht am Ende, der Verlust seines linken Arms in der Schlacht von Fleurus hat ihn offenbar noch toller werden lassen. Wie man in der Zeitung liest, will er den Niedersächsischen Reichskreis verlassen, um in die Vereinigten Niederlande zu gelangen. Aber Tilly ist ihm auf den Fersen. Ich bin überzeugt, er wird ihn einholen und seine Truppen zum Teufel jagen.“
„Ein Gutes hat dieser Krieg, unser Geld ist wieder etwas wert“, brummte Karl.
In den letzten beiden Jahren war es zu einer sprunghaften Geldentwertung gekommen, immer weniger Silber war in den Münzen enthalten. Als dann nur noch Kupfermünzen die Prägestätten verließen, hatten viele Menschen genug von dem anhaltenden Wertverlust. Bauern lehnten es ab, die Münzen für ihre Getreideernte anzunehmen, und Bäcker ließen ihre Arbeit ruhen. Als schließlich die Söldner sich weigerten, das wertlose Zahlungsmittel als Lohn für ihre Kriegsdienste anzunehmen, war endlich ein Umdenken in den Köpfen der Obrigkeit erfolgt. Seither wurde wieder nach der alten Reichsmünzordnung geprägt, und die nutzlosen Kreuzer und Pfennige wurden eingezogen.
Silas hörte kaum zu. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Nabil. Dieser Dunkelfuchs mit dem weißen Stern auf der Stirn und den fast golden wirkenden Strähnen in der Mähne, die vermutlich von der Sonne herrührten, hatte es ihm angetan. Er erhielt einen unsanften Rippenstoß von seinem Vater.
„Träumst du? Ich habe dich gefragt, ob du noch ein Bier willst.“
„Nein. Können wir noch einmal zu diesem Dunkelfuchs?“
„Wozu? Unser Freund hier hat zwei gute Pferde gefunden…“
„Aber wir sind hergekommen, um für den Erzbischof einzukaufen…“, unterbrach Silas seinen Vater.
„…, und wir haben bereits eine Stute und zwei Wallache im Mietstall untergestellt“, beendete Karl ungerührt seinen Satz.
„Wozu haben wir uns dann das Pferd mit dem Rotz überhaupt angesehen? Wir hätten auch einfach unserer Wege gehen und längst wieder zuhause sein können“, begehrte Silas auf.

Leseprobe aus "Die Farben der Welt"

 

1591

Nürnberg

 

Ein kalter Wind, begleitet von stetigem Nieselregen, fegte durch die Straßen und Gassen von Nürnberg. Hustend und zitternd vor Kälte ging Sabina Gerster neben ihrer Tochter Ida her. In der einen Hand trug sie einen prall gefüllten Korb mit Eiern, Käse, Kohl und Brot, in der anderen einen mit Flachs, den sie mit ihrem Umhang abgedeckt hatte, um ihn vor der Nässe zu schützen. Zu Hause wartete der Rockenstock, um die langen Flachsfasern zu verspinnen. Die zehnjährige Ida schleppte eine schwere Kötze mit Milch, Geräuchertem, Kerzen und Öl. Sie war überanstrengt, hungrig und plärrte, so sehr schmerzte ihr Rücken ob der Last und die ledernen Riemen des Tragekorbs schienen sich mit jedem Schritt tiefer in ihre Schultern zu graben.

"Nur noch über die Fleischbrücke, es ist nicht mehr weit bis nach Hause“, versuchte ihre Mutter sie zu trösten. „Dann bekommst du ein Stück Brot, und, wenn du zu weinen aufhörst, auch Käse und einen Becher Milch.“

Trotzig sah Ida zu ihrer Mutter auf. Tränen liefen ihre geröteten Wangen hinunter, und der Rotz aus der Nase zog eine Spur zu ihrer Oberlippe. Sabina stellte die Körbe auf den Boden, wischte Ida mit einem Zipfel ihrer Schürze die Nase sauber. Dann strich sie ihr über die honigblonden Locken, beugte sich hinunter und küsste sie auf die linke Wange.

„Ich kann nicht alle drei Körbe tragen, mein Kind“, seufzte sie heiser und versuchte erfolglos ihre Kehle zu klären.

Ida rieb sich die Augen mit den Fäusten und beschloss, tapfer zu sein. Auf ihren dünnen Beinchen folgte sie ihrer Mutter über die steinerne Brücke, die die Stadtviertel St. Sebald und St. Lorenz verband. Blutgeruch lag in der Luft, der dem nahen Fleischhaus entrang, das zur Flussseite hin offen war. Ida hörte die dumpfen Klänge der Fleischbeile, wenn sie die Tierkörper zerteilten und auf die hölzernen Fleischbänke trafen. Geschlachtet wurden die Tiere zuvor in einfachen Buden, die über der Pegnitz standen, damit die Abfälle sogleich im Fluss landeten. Von der Brücke war es nicht mehr weit bis zum ihrem Haus gegenüber dem Tugendbrunnen. Zuvor hatte es dort lediglich einen einfachen Brunnen in Form einer steinernen Säule gegeben, doch vor einigen Jahren hatte der Stadtrat den Erzgießer und Bildhauer Benedikt Wurzelbauer beauftragt, einen Bronzefigurenbrunnen zu schaffen.

Aufgeregte Rufe und Wiehern drangen vom Rossmarkt herüber. Idas Mutter kümmerte sich nicht weiter und strebte dem Haus zu. Ida folgte ihr, den Kopf über die Schulter gewandt, in der Hoffnung, vielleicht den Grund des Tumults zu entdecken. Dann standen sie vor dem Haus und stellten ächzend ihre Körbe ab. Sabinas Atem ging schwer, und sie hustete trocken.

„Geh in die Schmiede, Ida, und hol deinen Vater und Hans“, trug sie Ida auf und öffnete die Tür.

Ida wandte sich ab und ging durch den Hof zur Werkstatt. Doch dort traf sie nur auf den Gesellen, der eine Axt schmiedete. Nach dem kalten Regen, der ihre Kleider durchnässt hatte, war es in der Schmiede herrlich warm.

„Hans, wo ist mein Vater? Mutter sagt, ihr sollt hereinkommen, es ist Mittagszeit.“ Ida musste schreien, um den Lärm zu übertönen, den der Klang des Hammers auf Eisen verursachte. Hans nahm die Mahlzeiten immer mit ihrer Familie ein, sie waren Teil seines Lohns. Seine Frau Irmingard arbeitete bei einem Korbmacher in der Engelhardsgasse, und Ida wusste, die beiden sehnten sich nach einem Kind. Vom ersten Tag an hatte Hans ihr erzählt, er wünsche sich auch so ein hübsches Töchterchen wie Ida, und wann immer er sie sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

 „Er ist zum Rossmarkt, Pferde beschlagen“, antwortete der Geselle und hieb auf das glühende Stück Eisen ein, dass die Funken sprühten. „Sag Sabina, es dauert noch.“

Ida verließ die Schmiede und lief zum Haus.

„Kann ich jetzt mein Brot haben und einen Becher Milch?“, fragte sie, als sie in die Küche kam. „Hans arbeitet noch, und Vater ist zum Rossmarkt.“

Sabina brach ein Stück Brot und schnitt eine kleine Ecke Käse ab. „Hier, Kind, setz dich hin und iss.“ Sie goss Milch in einen irdenen Becher und stellte ihn vor Ida, die auf die Bank am Tisch geklettert war, und gierig Brot und Käse in sich hineinschlang. „Nicht so hastig, Ida, du bekommst sonst Bauchschmerzen.“

Plötzlich kam Hans in die Küche gestürzt.

„Sabina, schnell, Gustaf…“, stieß er hervor, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn.

Ida vergaß zu kauen und sah ängstlich von ihrer Mutter zu Hans und wieder zurück. Eine kalte Faust schien nach ihrem kleinen Herzen zu greifen und es zu umklammern, raubte ihr beinahe den Atem. Ihre Mutter war totenbleich geworden.

„Was ist geschehen?“, krächzte Sabina.

„Ein Pferd hat ihn getreten“, antwortete Hans und fasste nach ihrer Hand.

 

Wochen später

 

Beschwingt ging Ida nach St. Egidien, das Überkleid gerafft, damit es nicht im Straßendreck schleifte. Eine Kutsche hielt vor der Kirche, und Alfred half Luisa heraus. Das Pferd äpfelte, und der Kotgeruch stieg Ida in die Nase, als sie sich näherte.

„Luisa, Luisa“, rief sie aufgeregt und lief schneller. Ihre honigblonden Zöpfe mit den eingeflochtenen grünen Bändern wippten wie Peitschen auf ihren Schultern. Die Kutsche rollte davon, und Luisa drehte den Kopf in Idas Richtung.

„Oh, wie hübsch du bist, das Kleid ist wunderschön“, freute sie sich und klatschte begeistert in die Hände.

„Grün, wie der Frühling“, vernahm Ida Paula Nützels Stimme hinter sich.

„Oder wie das Gras, das die Pferde fressen, nur kommt es hinten braun raus.“ Wo Paula war, war Elisabeth Welser nicht weit.

„Und hier steckt der braune Dreck im grünen Kleid.“ Paula und Elisabeth wollten sich vor Lachen ausschütten.

 „Lass sie reden“, raunte Luisa und fasste warnend nach Idas Hand.

„Aber, du kennst das, nicht wahr, Gersterin? Dein Vater hat sicher immer nach verbranntem Hufhorn und Pferdemist gestunken. Vielleicht hat das Ross, das ihn totgetreten hat, ihn deswegen für einen anderen Hengst gehalten“, spottete Paula verächtlich, woraufhin Elisabeth erneut losprustete. Blitzschnell riss Ida sich wutentbrannt von Luisa los, bückte sich nach den Pferdeäpfeln und warf. Eine Handvoll traf Paula ins Gesicht, die andere landete auf Elisabeths Brust. Wenige Augenblicke später rangelten sich die drei Mädchen auf dem Boden, kreischten und zogen sich an den Haaren.

„Hört auf, so hört doch auf“, schrie Luisa entsetzt, aber keines hörte auf sie. Um sie herum scharten sich immer mehr Kinder, feuerten die Streithähne an. Luisa packte Ida am Ärmel, der hörbar zerriss, und versuchte, sie von den anderen zu trennen, als plötzlich Neudörffers Stimme donnerte: „Auseinander! Auf der Stelle!“

Die drei ließen voneinander ab, tauschten hasserfüllte Blicke. Ida sah an sich hinunter, das neue Kleid war ruiniert. Der Schulmeister befahl allen hineinzugehen und sich zu setzen. Nur Ida, Paula und Elisabeth beorderte er zum Pult.

„Beugt euch nach vorne, die Hände aufs Podest gestützt.“ Neudörffers Stimme klang zornig, und kaum waren die Mädchen seinem Befehl nachgekommen, hagelte es auch schon Prügel. Der Schulmeister holte weit mit seiner Weidenrute aus, und pfeifend sang sie ihr Lied, bevor sie kraftvoll auf die Hinterteile schlug.

„Das wird euch lehren, euch zu betragen. Sich wie Gassenjungen aufzuführen, dulde ich nicht“, rief er laut, damit alle ihn hören konnten. „Seht genau zu, wie es ihnen ergeht, und so wird es jeden treffen, der sich nicht zu benehmen weiß.“

 

1598

 

Um ihrer widerstreitenden Gefühle Herr zu werden, gab es nichts Besseres, als zu malen. Vor zwei Tagen hatte Kaspar sie beleidigt, und es tat immer noch weh. Sie dagegen hatte Sebastian versetzt, was dieser ihr bestimmt übelgenommen hatte.

Das Mischen der Farben, das Eintauchen der Pinsel und die Strichführung auf dem Papier gaben ihr Ruhe. Wie von selbst erschienen grasende Pferde auf einer grünen Wiese, schlängelte sich ein Bächlein durch die üppigen Auen, die Ufer gesäumt mit den violetten Blüten des Bittersüßen Nachtschattens und den rötlich-braunen nickenden Köpfchen der Bachnelkenwurzen. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

„Du wirst immer besser, Ida“, sagte Wenzel Straub, der im Türrahmen lehnte und das Bild begutachtete. „Ich denke schon länger darüber nach, ob du nicht von hier fort solltest, um weiter zu lernen.“

Ida sah ihn verdutzt an. „Wo soll ich denn hin?“

„Nach Florenz.“

Sie suchte in seinem Gesicht nach den Anzeichen eines Scherzes, doch da war nichts. Wenzel meinte es ernst.

„Dort gibt es die Accademia delle Arti del Disengo, und du wirst es nicht für möglich halten, aber dort werden tatsächlich Frauen angenommen“, erzählte Wenzel begeistert.

Ida winkte ab. „Dafür bin ich nicht gut genug. Ich bin zufrieden damit, hier bei dir zu malen und meine Bilder zu verkaufen.“

„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du hast eine Gabe, die dort weiter gefördert werden würde. Glaubst du, Markgräfin Sophie hätte bereits vier Bilder von dir erstanden, wenn sie diese nicht für außerordentlich halten würde? Es gibt noch andere Blumenmalerinnen in der Stadt. Ida, denk nach, du könntest ein Vermögen mit deiner Malerei machen“, beschwor Straub sie.

Sie ließ sich auf einem Schemel nieder, stützte die Ellbogen auf ihre Oberschenkel und ließ ihr Kinn auf ihren gefalteten Händen ruhen.

„Aber, ich kann doch nicht einfach fortgehen“, seufzte sie. „Was ist mit meinem Onkel?“

„Basilius Besler braucht dich nicht. Er ist wieder verheiratet, und für seinen Garten und Hilfe im Laboratorium kann er jemanden einstellen.“ Er musterte sie aufmerksam. „Dein Onkel ist nur eine Ausrede. Es gibt noch einen anderen Grund.“

Ida schlug die Augen nieder. „Ja, vielleicht. Ich weiß es nicht. Die Vorstellung, alleine so weit fortzugehen, ängstigt mich. Hier habe ich Menschen, die ich kenne und schätze.“

Straub stülpte eine leere Kiste um und ließ sich neben ihr nieder.

„Du sollst ja nicht für immer dorthin, nur für ein paar Jahre. Außerdem wirst du in Florenz neue Freundschaften schließen. Diese Stadt birgt so viele Möglichkeiten, nicht nur ist sie die Hauptstadt des Großherzogtums Toskana, sondern auch die Wiedergeburt der antiken Kunst. Reich und bis über alle Grenzen hinaus berühmt. Wen hat diese Stadt nicht alle hervorgebracht: Michelangelo, Leonardo da Vinci, Botticelli“, geriet Wenzel ins Schwärmen. „Du wirst ihre Werke bestaunen und in ihren Fußstapfen wandeln können.“

Seine Begeisterung war ansteckend.

 

Wochen später

 

"Lukas bat mich, die Vorzeichnungen zu machen, und er überträgt sie auf die Kupferplatte, um dann drucken zu können. Und natürlich konnte ich ihm das nicht abschlagen. Außerdem muss ich nicht umsonst zeichnen“, zwinkerte Ida.

Luisas Neid erwachte. Bestimmt sahen sich Lukas und Ida jeden Tag, und ihre Freundschaft würde sich dadurch vertiefen. Und wer wusste schon, ob sich Lukas nicht in Ida verliebte. Hatte er damals auf der Kirchweih nicht gesagt, Ida sei etwas Besonderes? Ihrer Freundin machten dann zwei Männer den Hof. Lukas und Sebastian. Und vielleicht sogar auch Kaspar. Alle schienen nur Ida zu verehren, das Mädchen von niederem Stand mit der Gabe und dem honigfarbenen Haar. Und Ida spielte mit ihnen, ließ sie tanzen wie die Puppen der fahrenden Schausteller. Sie selbst stammte aus einer der angesehensten Kaufmannsfamilien, doch ihr, Luisa, liefen die jungen Männer nicht hinterher. Warum nur konnte sie nicht so gut malen? Dann würde sie täglich Lukas sehen und nicht Ida…

„Luisa? Hörst du mir zu?“

„Verzeih, ich war abgelenkt.“

 „Ich hatte gefragt, ob du durstig bist.“ Ida sah sie arglos an.

Luisa verwarf die hässliche Gaukelei, die der Neid in ihr hervorgerufen hatte. Es war gemein, so über ihre Freundin zu denken.

„Ja, bin ich. Ein Glas Wein würde mir guttun“, sagte sie lächelnd.

Ida verschwand und kam nach kurzer Zeit mit einem Krug Wein und zwei Gläsern zurück. Sie schenkte ein und setzte sich Luisa gegenüber.

„Ich muss dir unbedingt etwas erzählen“, sagte sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatten. „Dein Bruder will sich mit mir verloben. Ist das nicht aufregend?“

Luisa schluckte. Was sollte sie darauf antworten? Ja, sie wusste davon, aber es würde wohl nichts daraus werden. Sollte Sebastian Ida nicht selbst die Wahrheit sagen? Niemals. Ich könnte Ida nie wehtun, waren noch vor kurzem ihre Worte gewesen.

„Was ist mit dir? Freust du dich denn gar nicht? Wir werden Schwägerinnen.“ Auf Idas Gesicht lag ein kummervoller Ausdruck.

„Doch. Es ist nur…, ich weiß nicht…“ Luisa entschloss sich, ehrlich zu sein. „Es tut mir leid, Ida, Sebastian sollte es dir eigentlich selbst sagen, und das wird er sicher auch tun. Aber dann bist du vorbereitet. Ich will dich nicht verletzen…“

Der Kummer in Idas Miene wich der entsetzlichen Erkenntnis.

„Er wird mich nicht heiraten. Das ist es, was du mir sagen willst“, hauchte sie und nippte an ihrem Wein.

 

Florenz

 

Ida kehrte um und schlug den Weg zurück zum Dom ein. Während sie dahinschritt, musterten ihre Augen die angrenzenden Gebäude, hofften, das Schild eines Wirthauses zu erhaschen, doch ohne Erfolg. Sie beschloss, rechts in eine Gasse abzubiegen, bestimmt würde ihr das Glück abseits des großen Domplatzes eher beschieden sein. Ein langgestrecktes Gebäude mit einer Bogenreihe und einer mehrstufigen Treppe erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ida blieb stehen, sah nach oben zu den Bogenzwickeln und entdeckte zwischen jeden von ihnen aufgebrachte blau-weiße Medaillons, die kleine, gewickelte Kinder zeigten. Sie erkannte, dass sie vor einem Findelhaus stand. Einem prachtvollen, wohlgemerkt.

„Kann ich Euch helfen?“, sprach sie ein schäbig gekleideter Mann lächelnd an. Sein unangenehmer Geruch ließ sie ein wenig von ihm abrücken.

„Ich bin auf der Suche nach einer Herberge“, brachte sie stockend hervor.

Er deutete nach oben zu den Medaillons und lachte meckernd: „Dort könnt Ihr nicht unterkommen. Aber ich kann Euch führen, wenn Ihr wollt.“ Er zeigte auf sich, dann auf Ida und deutete nach Südwesten.

Einen Augenblick zögerte sie, doch dann stimmte sie zu. Ohne ihn würde sie weiter herumirren und vielleicht bis zum Einbruch der Dunkelheit noch keine Kammer gefunden haben. Der Mann führte sie durch immer enger werdende Gassen, bog mal links, mal rechts ab, und bald hätte Ida nicht mehr sagen können, wo sich der Dom befand. Schließlich blieb er vor einem heruntergekommenen Haus stehen, öffnete die Tür und ließ sie an sich vorbei ins Innere treten. Eine einsame Öllampe versuchte die darin herrschende Düsternis zu durchdringen. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.

„Salire, salire“, hörte sie ihn hustend sagen. Dann drängte er sich an ihr vorbei, hob die Lampe, die er von der Wand genommen hatte, damit ihr Schein auf eine Treppe fiel. „Salire, salire“, wiederholte er und zeigte zu den Stufen.

Ida begann sich unwohl zu fühlen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einem Wildfremden zu folgen? Ihre Müdigkeit und der Wunsch nach einem Bett hatten sie sorglos werden lassen.

„Nein, ich möchte wieder gehen“, antwortete sie mit fester Stimme und strebte der Tür zu. Mit einer Behändigkeit, die sie ihm nicht zugetraut hätte, fuhr er herum, fasste grob nach ihrer Hand und riss sie zurück.

„Was fällt dir ein?“, rief Ida schrill und versuchte sich aus seinem eisernen Griff herauszuwinden.

Hart schlug er sie ins Gesicht. Ida schrie vor Schmerz auf, und im selben Moment kam jemand die Treppe heruntergepoltert.

„Was zum Teufel tust du da, Salvatore?“, drang eine tiefe Stimme an ihre Ohren. „Nimm deine verdammten Finger von ihr.“

Abrupt ließ Salvatore ihre Hand los und wich vor dem Neuankömmling zurück. Ein großgewachsener Mann, dessen Füße in teuren Stiefeln steckten, wie Ida im faden Lichtschein erkennen konnte. Es entspann sich ein kurzes Wortgefecht zwischen ihm und Salvatore, währenddessen Ida die Chance nutzte und sich unauffällig der Tür näherte. Gerade als sie diese öffnen wollte, wurde sie von draußen aufgestoßen, sodass Ida zurückweichen musste. Grelles Gelächter ertönte, gefolgt von seiner Besitzerin, einer auffällig gekleideten Frau, an deren Arm ein angetrunkener Mann hing.

„Gleich kannst du aus deinen Hosen raus“, gurrte die Frau mit dem tiefausgeschnittenen Kleid und fasste ihrem Begleiter in den Schritt.

Ida schoss die Röte ins Gesicht, und entsetzt dämmerte es ihr, wo sie gelandet war. In einem Hurenhaus. Salvatore war wohl der Mädchenfänger und der Stiefelmann der Hurenwirt. In dem engen Gang herrschte nun Gedränge.

„Uhh, was haben wir denn hier für ein hübsches Ding?“, säuselte die Hure, die Ida erst jetzt wahrnahm. „Jung und zart und bestimmt noch Vergine.“

 

 

 

Leseprobe aus "Der Pfeiler der Gerechtigkeit"

 

  1550

 

„Arkan, hierher!“, rief Julius Echter dem davonjagenden Hund nach.

Doch es nützte nichts. Die schwarzbraune Dachsbracke hetzte weiter und kümmerte sich nicht um die Befehle des Fünfjährigen. Arkan hatte vermutlich einen Hasen aufgespürt, jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Der Hund war erst sechs Monate alt und seine Ausbildung noch nicht weit fortgeschritten; eigentlich hätte Julius ihn gar nicht mit in den Wald nehmen dürfen. Aber der blonde dünne Fünfjährige hatte nicht widerstehen können. Schließlich war es sein Hund, denn er hatte den Welpen aus dem Wurf ausgesucht, oder umgekehrt. Der damals acht Wochen alte Arkan war mit wedelnder Rute und auf tapsigen Pfoten geradewegs auf Julius zugekommen und hatte sich in dessen Schoß zusammengerollt. Die Ausbildung des Welpen oblag dem Förster Korbinian, der seit Jahren für die Echters arbeitete. Schließlich sollte der Hund einmal ein erfolgreicher Spürhund werden. Arkan hatte zwar schon einiges gelernt, doch er hörte nicht auf einen kleinen Jungen, sondern auf Korbinian.

 Wieder und wieder brüllte Julius dem Hund hinterher, rannte so schnell er konnte und blieb irgendwann keuchend stehen. Arkan würde erst zurückkommen, sobald er entweder den Hasen – oder was auch immer ihm in die feine Nase gestiegen war – erlegt hatte oder seine Beute entkommen war. Was dagegen sicher war: Julius konnte sich auf eine Strafpredigt gefasst machen. Rascheln und das laute, wütende Grunzen eines durch das Unterholz brechenden Wildschweins drangen an seine Ohren, gepaart mit Arkans aufgeregtem Gebell und plötzlichem schrillem Aufjaulen. Julius blieb vor Schreck beinahe die Luft weg. Angestrengt horchte er in das Gebüsch hinein, hörte, wie das Wildschwein sich entfernte, dann ein schwaches Winseln.

„Arkan?“

Das Herz des Jungen hämmerte vor Angst und Aufregung, als er den kläglichen Hundelauten folgte und Arkan schließlich am Fuße einer Fichte liegen sah. Blut rann aus einer tiefen, klaffenden Wunde am linken Hinterbein und tränkte den Waldboden. Julius fiel auf die Knie, schob beide Arme unter den Körper des Hundes und kam mit zitternden Beinen zum Stehen. So schnell er konnte, lief er durch den Wald, den schwer verletzten Hund an sich gedrückt.

„Julius! Julius, wo steckst du?“ Michel Vetterer, der treue Hausknecht der Familie Echter, rief nach ihm.

„Hier! Michel, hilf mir!“ Die Stimme des Jungen klang dünn und gequält. Julius weinte, ohne es zu bemerken. Tränen rannen seine Wangen hinab, tropften auf Arkans seidiges Fell. Dann stand er plötzlich am Waldrand vor dem Knecht, der scharf die Luft einsog, als er den verletzten Hund sah.

„Gib ihn mir“, sagte er und nahm das Tier sanft aus Julius‘ Armen. „Geh, und lauf zu Korbinian, schnell! Er wird wissen, was zu tun ist“, drängte Michel. „Ich bringe Arkan zum Schloss.“

Julius stürmte los zum Forsthaus, das ganz in der Nähe des Schloss Mespelbrunn umgebenden Sees lag. Wenig später kam er in Begleitung des Försters über die heruntergelassene Zugbrücke durchs Tor. Im Innenhof hatte Michel bereits den Hund auf eine alte Decke gelegt. Wortlos kniete sich Korbinian nieder, betastete vorsichtig die Wunde, die inzwischen zu bluten aufgehört hatte.

„Michel, besorg sauberes Leinen und verdünnten Wein, ich bin gleich wieder hier“, ordnete der Forstmeister an.

Julius blieb bei seinem Schützling, redete auf ihn ein und streichelte seinen Kopf. Eiligen Schrittes kehrte Korbinian mit einem Beutel zurück. Er spülte die Wunde mehrfach mit Wein und entfernte das Fell um die Wundränder mit einem scharfen Messer, während Michel den Hund festhielt. Dann nahm er eine Salbe aus dem Beutel und trug sie auf die nun sichtbare rosafarbene Haut auf.

„Wofür ist das?“ Julius schluckte, als er sah, wie Arkan zusammenzuckte und wieder zu winseln begann.

„Die Opiumsalbe nimmt Arkan die Schmerzen“, brummte Korbinian, ohne aufzusehen.

Nachdem er die Wunde mit einem Pferdehaar vernäht und eine kleine Öffnung gelassen hatte, damit später der Eiter abfließen konnte, bestrich er ein Leinentuch mit Honig, legte es auf die Wunde, nahm ein weiteres Tuch, faltete es geschickt und brachte einen Verband an.

 „Ich nehme Arkan mit zu mir, damit ich ihn weiter versorgen kann. Er bekommt einen Lederkragen, so kann er sich den Verband nicht abreißen.“

„Wird er wieder gesund?“, fragte Julius mit trockenem Mund.

„Ich weiß es nicht, doch wenn er es schafft, ist er wahrscheinlich als Jagdhund nicht mehr zu gebrauchen“, erwiderte der Forstmeister missmutig.

 

Julius stand mit gesenktem Kopf vor seinem Vater im Jagdzimmer des Schlosses und weinte. Die ausgestopften Köpfe der erlegten Hirsche, Böcke und Keiler an den Wänden schienen anklagend auf ihn herunterzustarren.

„Hör auf zu weinen. Du enttäuschst mich, mein Sohn. Es war dir verboten, Arkan mit in den Wald zu nehmen, und trotzdem hast du es getan. Wenn er stirbt, ist es deine Schuld, nicht die des Keilers. Dem Herrn sei Dank, dass unser Forstmeister auch heilkundig ist und weiß, wie man verletzte Tiere behandelt. Doch trotz seiner Kunst liegt es allein in Gottes Hand, ob Arkan überlebt.“

Nachdem sein Vater ihn entlassen hatte, ging Julius zur Kapelle, die sich im kleineren der beiden Schlosstürme befand. Der Ballsaal im Erdgeschoss, durch den man zur Kapelle gelangte, war verlassen, worüber Julius froh war. Oft spielten er und seine Brüder dort Ball, wenn der Hauskaplan sie aus dem Unterricht entließ. Julius kniete sich in eine der Gebetbänke, auf deren hölzerner Front das Echterwappen prangte. Ein silberner Balken mit drei blauen Ringen, gekrönt von einem blausilbernen Helm, dessen Büffelhörner ebenso mit Ringen verziert waren. Das durch die Glasfenster fallende Sonnenlicht erleuchtete die winzige Kapelle und tauchte die farbigen Heiligenbilder an der Gewölbedecke in warmes Licht. Stumm betete der Junge zum Allmächtigen, er möge ihm vergeben und Arkan gesund werden lassen. Gelobte, sich fortan um Schwächere und weniger Begünstigte zu kümmern. Zeit seines Lebens.

Sein Vater hatte ihm mehr als deutlich gemacht, was er von ihm erwartete. Er, Julius, sei der Kirche versprochen und solle ein würdiger Diener Gottes werden. Ein Pfeiler des Glaubens auf dem Fundament der Nächstenliebe – das waren seine eindringlichen Worte gewesen. In eine ehrenhafte und reiche Familie hineingeboren worden zu sein, bedeute auch, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann erhob sich Julius mit schmerzenden Knien und verließ die Kapelle. Traurig und mit hängenden Schultern schlich er durch die Gänge des Schlosses.

„Julius, was ist mit dir?“

Plötzlich stand er vor Christina Alberdinen. Die zwergenhafte Magd mit ihrer verwachsenen Schulter war nur wenig größer als er. Sie war die gute Seele auf Mespelbrunn und wurde von allen geliebt, besonders von den Kindern, Adolf, Julius und Sebastian. Meist hütete sie die kleine Schwester der Echterbrüder, Margarethe, und kümmerte sich um den wenige Monate alten Valentin, der im Mai zur Welt gekommen war.

Julius begann zu schluchzen und stürzte sich in Christinas Arme. Sie drückte ihn an ihren üppigen Busen, und nachdem er sich etwas beruhigt hatte, fasste sie nach seiner Hand und führte ihn in die Schlossküche mit ihrem Kreuzrippengewölbe. Warm und behaglich war es hier. Über dem Herd baumelten Kupfertöpfe und Pfannen unterschiedlicher Größe. Die Köchin bereitete das abendliche Mahl zu, und es duftete bereits köstlich.

„Setz dich, mein Junge“, sagte Christina.

Auf dem gemauerten Wandvorsprung neben dem großen Backofen stand ein frisch gebackenes, süßes Brot gefüllt mit Rosinen und Nüssen. Die kleinwüchsige Magd schnitt zwei dicke Scheiben ab, legte sie auf einen einfachen Teller und brachte ihn an den Tisch. Dann nahm sie Julius auf den Schoß und sah ihn aufmerksam an.

„Und nun erzählst du mir, was dich so bedrückt.“

Während Julius von seinem Ungehorsam, den Geschehnissen im Wald und von seiner Angst um Arkan berichtete, brach Christina immer wieder ein kleines Stückchen Brot ab und reichte es ihm, wenn er ins Stocken geriet und die Tränen zurückdrängte. Am Ende war das himmlisch schmeckende Brot aufgegessen. Julius fühlte sich erleichtert und so voller Zuversicht, Arkan werde wieder gesunden, dass sich sogar ein Lächeln auf sein Gesicht stahl.

Er schmiegte seinen Kopf an Christinas Halsgrube und murmelte schläfrig: „Wie nennt man dieses Brot?“

„Ich nenne es Seelenbrot“, antwortete sie und strich dem Jungen sanft über den blonden Schopf. „Es ist mit Liebe gebacken.“

 

 

1574

 

 Spät in der Nacht wurde Simon plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Melchior packte ihn an den Haaren und schleuderte ihn gegen die Wand. Bevor Simon sich aufrappeln konnte, war der Bäckermeister über ihm und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er hörte seine Nase krachen, Blut schoss heraus. Ein Schlag in den Bauch ließ ihn sich zusammenkrümmen, gefolgt von einem Tritt in die Nieren. Ein lauter Schrei entfuhr ihm, und die Esel begannen, unruhig zu wiehern. Weitere Schläge und Tritte hagelten auf ihn ein. Melchior Bernbeck war rasend vor Zorn.

„Merk dir ein für alle Mal: Nie wieder wirst du dich in meinem Haus so benehmen!“

Er schlägt mich tot, fuhr es Simon durch Kopf. Der nächste Hieb ließ alles schwarz werden.

 

Wie lange er besinnungslos gewesen war, vermochte er nicht zu sagen, als er langsam wieder zu sich kam. Durch die Ritzen der Stalltür konnte er fahles Licht erkennen. Er erinnerte sich, dass Vollmond war. Mühsam wollte er sich aufrichten, doch sein Schädel schien bei jeder Bewegung zerplatzen zu wollen, und jede Handbreit seines Körpers schrie vor Schmerz. Stöhnend blieb er liegen. Selbst das Atmen tat weh, vermutlich hatte Bernbeck ihm eine Rippe gebrochen. Auch sein Sehvermögen war beeinträchtigt, das linke Auge war zugeschwollen. Ganz vorsichtig hob er die rechte Hand und fasste an seine Nase, spürte ihre Schiefe unter seinen tastenden Fingern. Simon schloss die Augen, nahm seine Nase zwischen die gekrümmten Zeige- und Mittelfinger. Mit einem beherzten Ruck richtete er das gebrochene Nasenbein und unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Seine Gedanken schwirrten. Keinen Tag wollte er hier länger bleiben. Aber was sollte er tun? Er könnte die Zunft anrufen. Meister Schlichting mochte ihn. Bestimmt würde er ihm helfen, eine andere Lehrstelle zu finden. Die Zunftordnung sah vor, dass bei übermäßiger Gewalt, zu langen Arbeitszeiten und Tätigkeiten, die mit der Ausbildung nichts zu tun hatten, ein Lehrling sich an das Schiedsgericht wenden konnte.

„Bernbeck hat mich übel zugerichtet, und ich schufte jeden Tag zu lange. Zudem lässt er mich andere Arbeiten verrichten, wie sich um die Esel zu kümmern, nur weil er zu geizig ist, einen Knecht einzustellen. Nicht, dass ich die Esel nicht mag, aber all dies sollte ausreichen, von der Zunft einen anderen Lehrmeister zugeteilt zu bekommen“, überlegte Simon hoffnungsvoll.

Diese Aussicht verlieh ihm die Stärke, sich trotz der Pein aufzurichten. Mit zitternden Beinen lehnte er an der Wand, hielt sich an einer Leiter fest, bis er sicher war, nicht umzufallen. Quälend langsam schlurfte er hinaus in den Hof, schöpfte Wasser aus dem Brunnen, kühlte sein Gesicht und machte sich in der aufziehenden Dämmerung auf zu Meister Schlichting.

Der Weg erschien ihm zweimal so lange wie sonst, doch schließlich erreichte er sein Ziel. Schlichting besaß ein stattliches dreigeschossiges Haus, die große Tür zur Backstube im Erdgeschoss stand offen. Für einen Augenblick lauschte Simon den Gesellen, die ein Lied angestimmt hatten.

„Uns vor allem auf der Welt,

das Bäckerhandwerk gut gefällt,

knet den Teig auf rechte Weise,

so erhält man gute Speise …“

 

So ging es also in einer Backstube zu. Gut gelaunte, fröhliche Menschen, die ihre Arbeit liebten und offenbar gerne zusammenarbeiteten. Wie anders war es doch bei Bernbeck. Simon pochte an die offen stehende Tür und machte einen Schritt in die warme, nach frischem Brot duftende Backstube.

„Grüßt euch Gott“, sagte er laut.

Die Gesellen sahen zur Tür, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Einer knetete zwei Laibe auf einmal, der andere streute Mehl darüber, ritzte mit einem Messer die Oberfläche ein und schoss die Brote in den Ofen. Simon war beeindruckt, wie die beiden Hand in Hand arbeiteten.

„Was willst du, Junge?“, brummte der bärtige Mann am Ofen über die Schulter gewandt. Argwöhnisch betrachtete er die dunklen Blutflecken auf Simons Hemd. „Hungerleider sind nicht willkommen, geh und bettle woanders.“

„Ich bin kein Bettler“, erwiderte Simon, „ich bin ein Lehrjunge und suche Meister Schlichting.“

Die letzten Laibe wanderten in den Ofen, und die Männer wischten sich ihre bemehlten Hände an ihren Schürzen ab.

„Der Zunftmeister ist auf dem Weg zum Stadtrat“, gab der Bärtige Auskunft.

„Was willst du von Schlichting?“, fragte der andere, ein hagerer Mann mit einer wulstigen Narbe im Gesicht, und musterte ihn neugierig.

„Das kann ich nur dem Meister selbst sagen.“ Simons Beine begannen zu zittern. Der Weg hierher hatte ihm einiges abverlangt.

„Er fällt uns gleich um, Karl“, warnte der Hagere und ging zur Tür, um Simon zu stützen.

Als er ihm den rechten Arm um die Körpermitte legte, stöhnte Simon auf.

„Ich glaube, eine Rippe ist gebrochen“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

„Was prügelst du dich auch. Es gehört sich nicht für einen Lehrjungen. Und überhaupt, wo ist deine Schürze? Du weißt wohl, dass du ohne sie nicht aus dem Haus gehen sollst“, schimpfte der Bärtige.

„Lass ihn, Karl, ich habe so eine Ahnung, warum er zum Meister will. Setz dich hierhin, Junge.“ Sanft ließ er Simon auf die gemauerte Bank an der Wand gleiten.

„Sei bedankt. Ich heiße übrigens Simon. Simon Reber.“

„Ich bin der Lois. Was ist mit deinem Gesicht geschehen, du siehst ziemlich schaurig aus.“

„Was schon? Er wird sich mit anderen gerauft haben“, fuhr Karl dazwischen und begann, kleine runde Wecken aus Roggenteig zu formen.

„Mein Meister …“, sagte Simon leise und schluckte.

„Dein Meister hat dir das angetan?“ Lois pfiff leise durch die Zähne. „Hab ich’s mir doch gedacht. Siehst du, Karl?“

„Ein paar Ohrfeigen haben noch keinem geschadet, wer weiß, was er ausgefressen hat.“

„Das waren wohl nicht nur ein paar Ohrfeigen. Diese Narbe hier“, wandte er sich an Simon und zeigte auf den dicken roten Wulst, der sich von seinem Unterlid bis zum Kinn zog, „hat mir einst mein Lehrmeister verpasst. Er war sturzbetrunken und behauptete, ich hätte ihn bestohlen. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und ist auf mich losgegangen.“

„Du hast Glück gehabt“, antwortete Simon. „Wann wird Meister Schlichting zurück sein?“

„Ich weiß nicht. Geh nach Hause und komm morgen wieder.“

„Kann ich nicht hierbleiben?“, flüsterte Simon, dem angst und bange wurde, wenn er nur daran dachte, zurückzugehen.

Lois schüttelte bedauernd den Kopf, und Simon erhob sich ächzend.

„Hier, nimm, du hast heute sicher noch nichts gegessen.“

 Dankbar nahm Simon das Stück Brot entgegen, schenkte dem Gesellen ein trauriges Lächeln und verschwand.

Seine Füße trugen ihn zur Lilien-Apotheke. Vielleicht würde ihm Sterzing helfen, schließlich war dieser einer seiner Bürgen. Auf keinen Fall konnte er zurück zu Bernbeck.

 

 

Leseprobe aus "Der Getreue des Herzogs"

 

1493

 

„Du, komm her!“

Der sechsjährige Grafensohn Ulrich war auf der Suche nach einem Spielgefährten. Ihm war sterbenslangweilig auf Schloss Hohentübingen, wohin ihn sein Onkel, Graf Eberhard, mitgenommen hatte. Ulrich hatte seiner Kinderfrau Oda eine lange Nase gedreht und war fortgerannt. Im Schlosshof war ihm ein dunkelhaariger Junge aufgefallen, der Gemüse putzte. Der Küchenjunge war etwas älter als Ulrich, sein Gesicht trug einen verträumten Ausdruck und er fühlte sich auf sein Rufen hin nicht angesprochen, ja, er sah nicht einmal auf. Ulrich überquerte den Hof und stellte sich vor den Jungen.

„Spielst du mit mir Murmeln?“

Der Dunkelhaarige hob den Kopf und blinzelte gegen die Sonne. Der Junge vor ihm trug ein Wams aus dunkelgrünem Samt über einem hellen Hemd, dazu enge Hosen und eine Schaube. Durchdringende graue Augen blickten ihn an. Der Neffe des Grafen, stellte der Küchenjunge verwundert fest.

„Meint Ihr mich? Ich muss arbeiten, sonst zieht mir der Koch die Ohren lang.“

„Das lass mal meine Sorge sein. Komm schon ... wie auch immer dein Name lautet“, forderte Ulrich nachdrücklich. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

„Johannes, mein Name ist Johannes.“ Er legte das Messer beiseite und stand von seinem Hocker auf.

„Ulrich.“

Der junge rotblonde Prinz streckte Johannes seine Rechte entgegen und dieser schlug ein. Die beiden Jungen grinsten sich an, dann eilten sie an den verblüfften Wachen vorbei durch das Schlosstor und fanden in dem angrenzenden kleinen Schlossgarten eine ruhige Ecke für ihr Murmelspiel.

Hoch oben über der Stadt thronte das Schloss, sah hinab auf das glitzernde Band des Neckars, der seine ruhigen Gewässer in großen Schleifen vorbei an üppigen Wiesen und goldgelben Feldern führte.

Ulrich verteilte die Murmeln. Rot gefärbte für ihn, die Blauen bekam Johannes, der mit der Fußspitze einen Kreis im Gras zog.

„Ich habe den ersten Wurf“, bestimmte Ulrich und rieb sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn.

Er war viel zu warm angezogen. Flink entledigte er sich der Schaube und ließ sie achtlos fallen. Dann kniete er sich ins Gras und schnippte die erste Murmel. Sie landete knapp außerhalb der Linie.

Johannes legte sich bäuchlings auf den Boden, krümmte den rechten Zeigefinger, presste den Daumen dagegen, platzierte eine blaue Murmel auf den Daumennagel und zielte. Treffsicher landete die Murmel im Kreis. Am Ende gewann Johannes mit einer Kugel Vorsprung. Ulrich zog ein mürrisches Gesicht.

„Noch mal, aber jetzt gewinne ich.“

Doch auch bei dieser Runde verlor er, und seine Wangen röteten sich vor Zorn. Sie trugen drei weitere Runden aus, und Johannes achtete dieses Mal darauf, den Grafensohn gewinnen zu lassen, ohne dass Ulrich es bemerkte. Nachdem Ulrich auf diese Weise dreimal den Sieg davongetragen hatte, strahlte er über das ganze Gesicht. Die Jungen setzten sich in den Schatten einer alten Linde.

„Hast du Geschwister?“, fragte Ulrich und lehnte sich an den Stamm.

„Ja, neun. Sechs Schwestern und drei Brüder“, antwortete Johannes. „Ihr seid Graf Eberhards Neffe, nicht wahr?“

Ulrich nickte.

„Was ist mit Euren Eltern?“

„Lass die höfische Anrede sein. Meine Mutter ist tot, sie starb kurz nach meiner Geburt. Und mein Vater befindet sich auf Hohenurach. Das ist eine Burg, die weniger als einen halben Tagesritt von hier entfernt ist“, fügte Ulrich erklärend hinzu.

„Warum bist du nicht bei deinem Vater?“, wollte Johannes wissen.

Ulrich rollte mit den Augen. „Er ist nicht gesund, sein Geist sei verwirrt, wurde mir gesagt. Wollen wir morgen wieder spielen? Ich werde wohl einige Zeit hierbleiben.“

„Ich gehe zur Schule, und danach muss ich arbeiten. Als Kind armer Eltern ist das Leben nicht so einfach. Du hast es gut, als Grafensohn musst du dir keine Sorgen machen, ob du am nächsten Tag zu essen hast oder ...“

„Johannes! Du nichtsnutziger Tagedieb, wo steckst du?“, brüllte jemand.

Johannes verzog das Gesicht. „Der Küchenmeister scheint mich zu vermissen. Eine Ohrfeige ist mir sicher, aber das war es wert“, grinste er schief und kam auf die Füße. Er winkte dem Grafensohn zu und rannte los.

Ulrich hob seine Schaube auf, sammelte die Murmeln ein und folgte ihm gemächlich. Im Schlosshof hörte er Johannes aufschreien. Er beschleunigte seine Schritte und als er um die Ecke bog, sah er, wie der Küchenmeister Johannes windelweich prügelte.

„Lass ihn zufrieden!“, brüllte Ulrich.

Mitten in der Bewegung hielt der Küchenmeister inne, wandte seinen kahlen Kopf und ließ den Arm sinken. „Verzeiht, junger Herr, aber dieser Nichtsnutz hat sich aus dem Staub gemacht, anstatt seiner Arbeit nachzukommen.“

Ulrich trat näher und sah den dicken Mann böse an, die Hände in die Seiten gestemmt. „Ich habe Johannes dazu gebracht, seine Arbeit liegen zu lassen, und nun lass ihn los. Auf der Stelle!“

Der Küchenmeister verzog verächtlich die Lippen.

„Johannes hätte seine Arbeit nicht vernachlässigen dürfen, ganz gleich, ob Ihr einen Gefährten suchtet oder nicht. Und du“, zischte er Johannes an und gab ihm eine schallende Ohrfeige, sodass dessen Kopf zur Seite flog, „scher dich in die Küche.“

„Das wird dir noch leidtun. Johannes kommt mit mir! Schäl das Gemüse doch selbst“, versetzte Ulrich hochmütig. „Komm, lass uns gehen“, forderte er seinen neuen Freund auf, der sich mit schmerzverzerrter Miene die linke Wange rieb.

„Sei bedankt, Ulrich, aber ich glaube, es ist besser ...“

„Nichts da! Wir gehen zu meinem Onkel.“ Er fasste Johannes bei der Hand und zog ihn mit sich.

Doch der dicke Mann hielt Johannes am Ärmel fest. „Du bleibst hier.“

Ulrich, der es nicht leiden konnte, wenn er seinen Willen nicht bekam, trat dem Küchenmeister mit aller Kraft gegen das Schienbein. Der verblüffte Mann jaulte auf und rieb sich den schmerzenden Knochen.

„Ich bin Prinz Ulrich von Württemberg, und wenn ich sage, Johannes kommt mit mir, dann hast du das hinzunehmen. Und wag es nicht noch einmal, meinem Freund wehzutun!“

 

 1512

 

„Wie kannst du es wagen, dich gegen den Kaiser zu stellen?“, fauchte Sabina und hielt sich den stetig wachsenden Bauch. In wenigen Wochen würde sie ihr erstes Kind bekommen. Sie hoffte auf einen gesunden Sohn. Jeden Tag kniete sie vor dem kleinen Altar, der in einer Nische ihres Gemachs stand, und betete zur heiligen Mutter Gottes.

Im Oktober war Herzog Ulrich nach Augsburg gereist und aus dem Schwäbischen Bund ausgetreten. Im Anschluss hatte er sich in die Kurpfalz begeben, um sich mit Kurfürst Ludwig zu vereinen. Gemeinsam mit Baden und Kursachsen sollte ein Gegenbund entstehen. Die letzten Tage hatte er schließlich in Köngen im Hause der Thumb von Neuburg verbracht. Sabina war sicher, dass er nicht nur mit seinem Erbmarschall gesprochen, sondern vielmehr Ursula besucht hatte. Ihr Ehegatte machte keinen Hehl aus seiner Verehrung für Thumb von Neuburgs hübsche Tochter.

„Was kümmert es dich? Württemberg ist mein Land, und es wird von mir regiert. Es darf nicht sein, dass der Bund mich in meinen Rechten einschränkt“, entgegnete Ulrich und trat wütend gegen einen Stuhl.

„Der Bund kam dir doch entgegen, dank der Fürsprache meines kaiserlichen Onkels. Außerdem hat Maximilian dir gestattet, den Weinzoll zu verdoppeln. Es war keine kluge Entscheidung, aus dem Schwäbischen Bund auszutreten.“ Schwerfällig ging Sabina zum Fenster und sah hinaus in den grauen Novembermorgen. Gott, wie sie ihren Mann verachtete. Warum nur musste sie ihr Leben an der Seite eines groben Kerls wie Ulrich verbringen?

„Halt den Mund, und geh mir aus den Augen, du hässliches, fettes Weib“, fuhr er sie an.

„Das ist immer noch mein Gemach, also scher du dich zum Teufel“, keifte Sabina über ihre Schulter. „Und nimm deine stinkenden Köter mit.“

„Vielleicht sollte ich darüber nachdenken, dir ein anderes Gemach zuzuweisen. Ich denke gerade an die oberste Kammer im Turm“, brummte Ulrich, während er, gefolgt von seinen Hunden, die Tür hinter sich zuwarf.

Der Herzog trat hinaus in die eisige Kälte, ein beißender Wind pfiff zwischen den Schlossmauern hindurch. Seine Füße, die in pelzgefütterten warmen Stiefeln steckten, trugen ihn, ohne groß darüber nachzudenken, in den Stall. Immer, wenn er sich über Sabina ärgerte, suchte er die Gesellschaft des Oberstallmeisters Hans von Hutten. Mit grimmigem Gesicht betrat er die Stallungen. Ein Stallbursche, der gerade die Stallgasse fegte, erstarrte mitten in der Bewegung. Den Besenstiel hielt er krampfhaft umklammert, sodass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. Der Herzog jagte ihm jedes Mal Angst ein, wenn er ihm begegnete.

„Was stehst du hier faul rum?“, herrschte Ulrich den Jungen an.

Mit zitternden Händen fegte der Bursche weiter, seine Bewegungen hastig und fahrig, eilte er die Stallgasse entlang.

„Nennst du das kehren?“, schnarrte Ulrich und wies auf einzelne Strohhalme, die dem Besen entgangen waren.

„N... nein, verzeiht, Durchlaucht.“

Der Junge kam mit hochrotem Kopf zurück, um die Halme beiseite zu kehren. Als er auf Ulrichs Höhe war, erhielt er eine Ohrfeige, die ihn taumeln ließ. Der Herzog entriss ihm den Besen und begann zügellos auf den Burschen einzudreschen.

„Das wird dich lehren, künftig ordentlich zu sein!“

Der Junge krümmte sich und versuchte mit erhobenen Armen seinen Kopf zu schützen.

„Haltet ein, Durchlaucht, haltet ein!“ Hans von Hutten hatte das Geschrei gehört und kam aus der Geschirrkammer angelaufen. Ulrich versetzte dem Burschen noch einen letzten Streich, dann ließ er den Besen fallen.

„Ich war auf dem Weg zu Euch, als ich diesen Taugenichts erwischte. Faul und unordentlich und zu dumm, um mit einem Besen umzugehen.“

„Geh wieder an die Arbeit“, sagte Hans von Hutten und zwinkerte dem Jungen kaum merklich zu.

Der Marstaller wusste nur zu gut, dass der Bursche kein Nichtsnutz war und sich wie die meisten Bediensteten vor den Launen des Herzogs fürchtete.

„Kommt mit, Durchlaucht, seht Euch die Fortschritte der jungen Pferde an“, wandte er sich an Ulrich, um diesen abzulenken.

Fluchend setzte sich der Herzog in Bewegung und ging neben Hans her. Die Hunde folgten ihm auf dem Fuß. „Entlass den Jungen, er taugt nichts.“

 

 1513

 

„Es reicht. Wir können es nicht länger hinnehmen, dass immer mehr Schulden angehäuft werden“, erklärte der Zunftmeister der Büchsenmacher. „Teure Feldzüge, die nicht die erhoffte Kriegsbeute einbringen, die Teilnahme an den Reichstagen, die Herzog Ulrich mit einem riesigen Gefolge bestreitet, und seine völlig übertriebenen Gelder, die er den Musikanten seiner Hofkapelle bezahlt. Von den sündhaft teuren Instrumenten einmal abgesehen ...“, begann er seine Aufzählung.

„Nicht zu vergessen, die teuren Rösser, die er in allen Herren Ländern zusammenkauft“, warf ein Kaufmann ein. „Ulrich bringt das Land an den Rand des Ruins.“

„Dort sind wir schon“, rief ein anderer dazwischen. „Der Herzog muss einen Landtag einberufen. Mir kam zu Ohren, dass allein dieses Jahr mehr als fünfzigtausend Gulden neue Schulden aufgenommen wurden. Das ist ungeheuerlich!“

Solch aufgebrachte Männer gab es nun überall im Land, nicht nur in Stuttgart, wo die Menschen nahezu täglich mitansehen mussten, wofür die erhobenen Steuern und Sonderumlagen vergeudet wurden.

Doch der Herzog dachte nicht daran, einen Landtag einzuberufen. Es war besser mit einzelnen Städten zu verhandeln, als sich dem geballten Widerstand des Landtags zu stellen. Seine Räte schlugen eine Vermögenssteuer vor, und Ulrich versprach den Stadtoberen, in Zukunft keine weiteren Umlagen mehr zu fordern, wie für eine Heeresaufstellung im vergangenen Jahr. Ausgewählte Männer wurden ausgesandt, um die Vermögen der Landstände zu prüfen und aufzuschreiben, damit die geplante Steuer festgesetzt werden konnte. Dazu gehörten nicht nur die Gulden in den Truhen, sondern Häuser, Landbesitz und mit wenigen Ausnahmen die gesamte Fahrnis: Pferde, Vieh, Fische in den Teichen, Holzscheite, die fein säuberlich für den Winter aufgestapelt waren, Möbel, Karren, Pferdegeschirre - alles wurde gezählt und fein säuberlich vermerkt.

 

 

„Endlich sind wir unter uns“, sagte der Herzog und ließ sich in einen brokatüberzogenen Sessel fallen. „Setz dich und erzähl mir von dir, mein Freund.“

Johannes berichtete von seinem täglichen Kampf gegen Krankheiten, schilderte, wie er noch vor Tagesanbruch im Sattel saß, um in die nahen Städte und Dörfer zu reiten und nach den Menschen zu sehen, die seiner Hilfe bedurften.

„Du bist ein guter Mensch, Johannes, und neben meinem Stallmeister Hans von Hutten mein einziger Freund“, nickte Ulrich wohlwollend. „Doch sag, gibt es eine Frau in deinem Leben?“

„Die, die ich will, kann ich nicht haben.“ Eine traurige Miene machte sich auf Greiners Gesicht breit.

„Und die, die ich habe, will ich nicht. Wir befinden uns also beide in einer ähnlich ausweglosen Lage“, entgegnete Ulrich trocken und lehnte sich nach vorne, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. „Kenne ich sie? Die Tochter eines Adligen? Du weißt ja, ich bin der Herzog und dein Freund, ich könnte etwas für dich arrangieren.“ Aufmunternd sah er Johannes an, was diesen zum Lachen brachte.

„Ich weiß das zu schätzen, lieber Ulrich. Aber sie hat sich für einen anderen entschieden. Allerdings nicht aus freien Stücken, sondern nur, um ihren Großvater nicht vor den Kopf zu stoßen.“

„Sei so gut, und ruf uns einen Diener, der Wein und Naschwerk bringen soll. Und dann will ich wissen, wer sie ist, die dich so unglücklich macht.“

Johannes ging zur Tür, streckte den Kopf in den Gang und winkte einem Pagen, der ergeben an eine Säule gelehnt wartete, bis seine Dienste benötigt wurden. Er eilte sich, den Wünschen seines Herrn nachzukommen, und erschien wenig später mit einem ordentlichen Krug Wein und zwei Pokalen, gefolgt von einer Magd mit zwei Tellern, auf denen eine duftende in Schmalz gebackene Eierteigspeise, getränkt in einer warmen Mischung aus Wein und Honig, angerichtet war. Der Herzog und Johannes leckten sich zufrieden die Lippen, nachdem sie die Süßspeise genüsslich verzehrt hatten.

„Du bist mir noch eine Antwort schuldig“, sagte Ulrich und lehnte sich satt und zufrieden in seinem Sessel zurück.

„Ihr Name ist Sophie. Sie ist die Enkeltochter des Tübinger Stadtvogts. Und sie ist mit einem deiner Räte verlobt. Ambrosius Volland“, erzählte Johannes seufzend.

„Nun, das ist allerdings eine verzwickte Lage.“ Ulrich rieb sich das bärtige Kinn.

„Jetzt möchte ich aber etwas von dir hören“, gab Johannes dem Gespräch eine andere Wendung, denn er wollte nicht weiter über seine unglückliche Liebe sprechen. „Du bist Vater geworden. Hat sich dadurch zwischen dir und Sabina etwas zum Guten verändert?“

Ulrich verdrehte die Augen. „Oh, dieses schreckliche Weib hat mir eine Tochter geboren! Konnte sie denn nicht einen Sohn bekommen? Nun muss ich sie weiter besteigen, um einen Erben zu zeugen. Ich sage dir, das ist kein Spaß. Aber wenigstens habe ich meine wunderbare Ursula. Insofern geht es mir also besser als dir. Ich habe zwei Frauen, eine, die ich liebe, und eine, auf die ich leider wegen der Erbfolge nicht verzichten kann. Du musst mit den Huren vorliebnehmen, wenn die Säfte überschießen.“

Johannes schüttelte den Kopf. „Da muss ich dich leider enttäuschen. Zu den Huren gehe ich nicht, das bringe ich nicht über mich. Außer natürlich, sie sind krank, und ich kann ihnen vielleicht helfen, versteht sich.“

„Oh, komm schon, Johannes, du bist ja beinahe ein Heiliger. Willst du dein Leben lang einer Frau hinterherweinen und auf alles verzichten?“

„Für Sophie würde ich alles tun. Du kennst sie nicht. Sie ist wunderbar. Und ja, wenn es so sein soll, dass sie nie die meine wird, dann will ich keine andere.“

 

 1515

 

„Steigt auf, Greiner, wir reiten nach Urach“, befahl der Herzog mit finsterer Miene.

Johannes blieb keine Wahl und er wagte nicht, noch einmal nachzufragen, was geschehen war.

„Öffnet das Tor“, brüllte Ulrich und gab seinem Pferd die Sporen.

In Windeseile galoppierten sie durch das Tor und die Stadt, die Hufeisen der Pferde ließen Funken auf dem Pflaster sprühen. Eines der Tiere stolperte, fing sich aber wieder, und sein Reiter hatte alle Mühe, im Sattel zu bleiben. Rücksichtslos ritten sie durch die Gassen, Menschen sprangen zur Seite, Stände wurden umgerissen und ein Teil der Waren geriet unter die Hufe. Dann ritten sie durch das Stadttor hinaus und folgten flussaufwärts dem Lauf der Steinach.

In kürzester Zeit ragten zu ihrer Linken die weißen Felsen mit dem Hohenneuffen empor. Vom Tal aus war die starke Ringmauer der Burg mit ihren Ecktürmen bereits von Weitem sichtbar. Sie gönnten den Pferden eine kurze Rast, bevor sie weiter Richtung Süden ritten. Von Hohenneuffen war es nicht mehr weit bis nach Urach. Doch anstatt in die Stadt hineinzureiten bis zum Schloss, schlug der Herzog den Weg bergauf ein. Sein Ziel war Hohenurach. Die Burg thronte oben auf dem Gipfel und war, wie es hieß, noch nie bezwungen worden. Der steile Anstieg und das unwegsame Gelände machten es Angreifern schwer, überhaupt bis zu den starken Mauern vorzudringen.

Johannes fror erbärmlich, ein eisiger Wind begleitete die Schar seit geraumer Zeit. Der Arzt vergrub seine Hände in der dichten Mähne des Pferdes, um ein bisschen von der Wärme, die das Tier ausstrahlte, abzubekommen. Außerdem knurrte sein Magen, wohl oder übel hatte er auf den morgendlichen Brei und ein Stück Brot verzichten müssen. Nun hoffte er, wenigstens auf der Burg etwas zu essen zu bekommen und endlich zu erfahren, wer oder was den Zorn des Herzogs derart erregt hatte.

Die Pferde atmeten schwer und prusteten laut durch die Nüstern, als sie ihre Reiter den Berg hinauftrugen. Johannes lehnte sich nach vorn, um es seinem Reittier leichter zu machen. Wenigstens wurde der Wald dichter und hielt den Wind etwas ab. Die Männer vor und hinter ihm waren schweigsam. Auf Johannes’ Frage, warum sie nach Hohenurach unterwegs waren, erhielt er nur ein unwilliges Brummen zur Antwort. Für einen Augenblick hatte er darüber nachgedacht, ob Ulrich nach seinem leiblichen Vater sehen wollte, der nach wie vor auf der Burg gefangen gehalten wurde. Doch das konnte er sich nicht vorstellen. Er war sich nicht einmal sicher, ob der Herzog überhaupt einen Gedanken an Heinrich verschwendete.

Endlich war der Anstieg bewältigt, und sie erreichten die Vorburg, wo sich Gesindehäuser, Ställe und Speicherschuppen befanden. Knechte kamen herbei, um den Reitern die Pferde abzunehmen. Als einer der Burschen sich ungeschickt mit Ulrichs Pferd anstellte, versetzte der Herzog ihm einen derben Tritt gegen das rechte Knie. Mit einem Schmerzensschrei strauchelte der Junge und ging zu Boden. Ulrichs Hengst tänzelte erregt um ihn herum, sodass seine Hufe dem armen Kerl gefährlich nahe kamen.

„Steh auf, du elender Nichtsnutz und geh mir aus den Augen!“, herrschte Ulrich ihn an, während er dem Hengst beruhigend über die Nüstern strich und die Zügel seinem Knappen übergab.

Wieder einmal konnte Johannes nur stumm den Kopf schütteln. Zu seinen Pferden und Hunden war Ulrich sanft und freundlich, Menschen hingegen schien er mehr und mehr zu verabscheuen. Bevor er weiter darüber nachgrübeln konnte, was Ulrich hier wollte, kamen zwei gerüstete breitschultrige Gestalten auf Johannes zu, und ehe er sich versah, hatten sie ihn in Ketten gelegt. Er war wie erstarrt. Gehetzt sah er sich nach Ulrich um und fing dessen Blick auf, in dem der Hass loderte.

„Durchlaucht, was geht hier vor?“ Johannes erkannte kaum seine eigene Stimme. Dünn und brüchig hörte sie sich an.

„Ein Verräter seid Ihr, Greiner. Ein mieser Verräter. Das hätte ich nie von Euch gedacht“, entgegnete Ulrich kalt.

„Aber, wieso? Was werft Ihr mir vor?“

Ulrich wandte sich ab und nickte den Männern zu, die Johannes gefesselt hatten. „Bringt ihn in den Turm.“

„Ulrich! Ulrich! So warte doch! Sag mir, was geschehen ist? Ich würde dich nie verraten“, brüllte Johannes, als die Männer an ihm zerrten und zogen. Doch der Herzog kehrte ihm den Rücken und ging davon.

Johannes wurde in ein dunkles Verlies gestoßen und fiel in feuchtes, schimmlig riechendes Stroh. Die schwere Eisentür schwang hinter ihm zu, ein Schlüssel klirrte und ein Riegel wurde vorgeschoben. Nach einer Weile hatten sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt, das nur durch einen Schlitz im Mauerwerk hineindrang. Draußen ertönte das Geklapper von Pferdehufen, das sich aber schnell entfernte.

Drei Schritte waren es von einer Wand zur nächsten, die Fuß- und Handschellen scheuerten an seinen Gelenken. Wenigstens lag eine alte Decke in einer Ecke, die zwar vor Schmutz starrte, aber das war besser als gar nichts. Einen Abtritteimer gab es nicht. Erschöpft und niedergeschlagen setzte Johannes sich ins Stroh, legte sich die Decke mit Mühe um die Schultern und lehnte den Kopf gegen die feuchte Wand. Wieder und wieder zermarterte er sich das Hirn, warum er hier eingesperrt war. Würde er es jemals erfahren oder würde Ulrich ihn hier einfach vergessen und verrotten lassen? 

 

Wohnzimmerlesung!        

 

https://www.youtube.com/watch?v=WZd1qqEyGBU

 

 

 

 

Leseprobe aus "Die Erleuchtung der Welt"

 

1428 - Neckargemünd

 

Wigbert griff nach dem ledernen Würfelbecher, schüttelte und stülpte ihn auf den rohen Holztisch, lüftete ihn. Nur eine Zwei und eine Drei. Das reichte bei Weitem nicht, um die beiden Fünfen, die gerade gewürfelt worden waren, zu übertrumpfen. Verloren. Schon wieder.

"Tja, Wigbert", sieht schlecht für dich aus, ich fürchte, du musst mich bezahlen", feixte Cuntz. Der Winzer schien das Glück gepachtet zu haben, hatte kaum eine Würfelrunde verloren, und das Häufchen gewonnener Münzen vor ihm wuchs stetig.

"Wie viel?"

"Drei Gulden."

Großer Gott, das konnte er niemals bezahlen. Für drei Gulden musste er zwei Monate arbeiten. Mit einem Schlag war er nüchtern.

"So viel habe ich nicht", antwortete Wigbert heiser.

Cuntz' Gesicht nahm einen harten Zug an.

"Dann gib mir, was du hast, und den Rest bezahlst du bis Ende Jänner."

"Aber wovon soll ich dann leben? Jetzt ist keine Erntezeit, kaum einer braucht einen Tagelöhner. Ich komme so schon schlecht über die Runden. Das kann ich nicht, meine Kinder ...", rief Wigbert entsetzt.

"Nicht meine Angelegenheit. Du hast Geld zum Würfelspiel, dann kann es so schlimm nicht sein", erwiderte Cuntz Wengerter unversöhnlich.

"Er hat recht, Wigbert", pflichtete einer der Mitspieler dem Winzer bei.

Fieberhaft dachte Wigbert über einen Ausweg nach. Dann kam ihm ein rettender Gedanke.

"Meine Tochter Helena könnte die Schulden bei dir auf dem Weinberg abarbeiten oder im Haus. Bald ist Mariä Lichtmess, da kannst du sicher ein paar Hände mehr gebrauchen. Sie ist fleißig, geschickt und nicht dumm. Ich würde sie dir überlassen, bis die Schulden abgetragen sind."

"Ist sie hübsch?"

Wigbert pries Helenas Vorzüge in den höchsten Tönen.

"Feingliedrig und anmutig wie ein Reh ist sie, und trotzdem kann sie zupacken. Ihr Haar hat eine besondere Farbe, dunkelrot wie das Herbstlaub, und ihre grünen Augen funkeln wie Edelsteine. Und sittsam ist sie, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehört. Ein wahrer Engel, gottesfürchtig und gehorsam."

"Schon gut, Wigbert, bevor du mir noch weismachst, sie ist die Jungfrau Maria, schau ich sie mir lieber selbst an. Und nun lass uns gehen." Er stieß Wigbert den Ellbogen in die Rippen.

"Jetzt?"

"Natürlich jetzt."

"Ja, ja, einverstanden, ich versichere dir, ich habe nicht übertrieben, was meine Tochter anbelangt", beeilte sich Wigbert zu sagen.

Mühsam und schwankend erhob sich Wigbert von seinem Hocker und verließ, gefolgt von Cuntz, das Wirtshaus. Draußen waren die Gassen matschig. Der Winter hatte in den letzten Wochen die Natur fest im Griff gehabt, doch seit zwei Tagen war Tauwetter eingetreten, das den gefrorenen Untergrund in Schlamm verwandelt hatte. Der Winzer nahm Wigbert mit auf seinen Wagen, ließ die Leinen auf die dunkelbraunen

Pferderücken klatschen, und die beiden Tiere zogen geduldig an.

Als Wigbert und Cuntz die Kate betraten, war Helena gerade dabei, einen Brei aus Weizen zu kochen. Mit kräftigen Bewegungen rührte sie im Topf und gab noch ein paar verschrumpelte Zwiebeln hinzu, damit die Mahlzeit nicht ganz so fade schmeckte.

"Helena, bring unserem Gast und mir etwas zu trinken", forderte Wigbert seine Tochter mit schwerer Zunge auf.

Helena blickte über die Schulter und betrachtete argwöhnisch den Fremden, der neben ihrem Vater stand. Groß gewachsen, breite Schultern, einen stattlichen Bauch vor sich hertragend, hellbraunes Haupthaar und einen etwas dunkleren Bart. Seine Gesichtszüge wirkten hart, und seine braunen Augen musterten Helena kalt. Sie holte zwei Becher und einen Krug mit Dünnbier. Beides stellte sie auf den Tisch, schenkte ein und wollte sich gerade wieder der Feuerstelle zuwenden, als Cuntz sie grob am Handgelenk packte.

"Nicht so schnell, meine Hübsche."

Helena erstarrte und spürte einen Kloß in ihrem Hals.

"Du hast nicht zu viel versprochen, Wigbert,", wandte sich Cuntz an seinen Gastgeber. "Ein hübsches Mädchen hast du da, und wenn ich mich hier so umsehe, hält sie deine Hütte in Ordnung."

Helena warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, doch dieser wich ihr aus.

"Ich hab's dir doch gesagt. Dann gilt jetzt unsere Abmachung?", krächzte Wigbert heiser.

"Was für eine Abmachung, Vater?", wagte Helena mit klopfendem Herzen zu fragen.

Doch dieser blieb ihr die Antwort schuldig, senkte den Blick beschämt zu Boden. An seiner statt klärte der Winzer sie grinsend auf und gab ihren Arm frei.

"Du kommst mit mir und arbeitest die Spielschulden deines Vaters ab."

Entsetzt riss Helena die Augen auf.

"Wie konntest du nur?", rief sie wütend. "Statt zu arbeiten, versäufst und verspielst du das Wenige, das wir haben! Und das am hellichten Tag. Ich ..."

Eine schallende Ohrfeige Wigberts brachte sie zum Schweigen. Ihre Wange brannte, Tränen stiegen ihr in die Augen, doch Helena drückte sie tapfer zurück. Sie würde sich keine Blöße geben und weinen. Fest presste sie die Kiefer zusammen. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Ihr Vater verschacherte sie wie ein Stück Vieh. Das würde sie ihm nie vergeben.

"Koch den Brei fertig, dann gehst du mit Cuntz."

Seine traurigen Augen ließen sie wissen, es tat ihm leid, sie geschlagen zu haben.

Nur gut, dass Mutter das nicht erleben muss. Bestimmt dreht sie sich im Grabe um, dachte Helena zornig.

"Du kannst deinen Brei alleine kochen, ich gehe gleich", schleuderte sie ihm entgegen. "Oder frag Siegfried, vielleicht übernimmt der nun die Hausarbeit."

Cuntz Wengerter gefiel das Mädchen immer besser. Von wegen gehorsam. Eine kleine Rebellin war sie. Die Zeit mit Helena auf seinem Wingert versprach spannend zu werden. Er würde ihr ihre Widersetzlichkeit schon austreiben, freute sich der Winzer diebisch.

"Stimmt genau, Wigbert, jetzt musst du wohl selbst den Brei rühren. Es riecht schon ein wenig angebrannt", feixte er. "Na komm schon, Mädchen, vor uns liegt ein ordentliches Stück Weg."

"Mein Name ist Helena", sagte sie mit fester Stimme.

Sie nahm den alten Mantel ihrer Mutter, der schon deutlich bessere Tage gesehen hatte, und verließ hocherhobenen Hauptes die Kate, ohne ihren Vater noch eines Blickes zu würdigen. Cuntz folgte ihr auf dem Fuß, nicht ohne Wigbert zuzuwinkern.

"Steig hinten auf", forderte der Winzer, hievte sich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

Als Winzer verdiente er gutes Geld und konnte sich Pferde und Wagen leisten. Helena war froh, dass sie nicht zu Fuß gehen musste. Ihr schäbigen alten Schuhe hielten mit viel Glück gerade noch diesen Winter über durch. Vielleicht war es ja ein Wink des Schicksals, dass ihr Vater beim Würfeln verloren hatte.

Wenn ich mich anstrenge und fleißig bin und mich unentbehrlich mache, dachte sie, behält Cuntz mich vielleicht als Magd. Das wäre besser als wieder zurück zu Vater zu gehen. Bestimmt sind die Schlafstätten für die Arbeiter auf dem Wingert trockener und wärmer als in unserer armseligen, zugigen Hütte.

"Helena! Helena!"

Sie wandte den Kopf. Ihr kleiner Bruder Siegfried lief hinter dem Wagen her.

"Wo fährst du hin? Was hat das zu bedeuten?", schrie er aufgeregt.

"Frag Vater! Und pass auf dich auf, Siegfried."

Cuntz ließ die Pferde antraben, und der Wagen entfernte sich schnell. Siegfrieds Gestalt, die mit hängenden Armen auf der Straße stand, wurde immer kleiner.

 

1441 - Schloss Stuttgart

 

Wenige Tage später kam es wieder zu einem heftigen Streit. Doch dieses Mal war es Margarete vollkommen gleichgültig, dass jeder ihre Bösartigkeiten hören konnte, der sich in der Dürnitz aufhielt.
»Das Schloss ist zu klein, wie oft soll ich das noch sagen. Ich, als Tochter eines Herzogs, brauche eine eigene Halle, um Empfänge geben zu können. Zu viele Menschen leben hier
auf zu engem Raum, nie hat man seine Ruhe. Kein Wunder, dass Mechthild ihr Kind verloren hat. Abgesehen davon ist sie auch viel zu dünn, um ein Ungeborenes zu ernähren. Zudem ist sie jeden Tag wie ein Mann in den Sattel gestiegen. Als ob
es keine Kutschen oder Damensättel gäbe. Vermutlich kann sie froh sein, bestimmt hätte sie wieder einem kranken Wicht das Leben geschenkt.«
Mechthild erstarrte, Ludwig und Ulrich hielten mitten in der Bewegung inne und rissen ungläubig ihren Mund auf. Keiner sagte etwas. Helena stand ganz langsam von ihrem Platz auf, ging zu Margarete, die sie hochnäsig musterte, griff nach deren
Weinpokal und schüttete ihn der Gräfin mitten ins Gesicht. Sie warf den Pokal auf den Tisch, drehte sich um und verließ die Halle. Von den Tischen, wo die Dienstboten saßen,
war leises Gekicher zu hören, einige wagten sogar, verhalten zu klatschen, und gedämpftes Gerede setzte ein.
Von Margaretes Haaren und Gesicht tropfte der Rotwein, ihr hellgrünes Brokatkleid zeigte einen riesigen Fleck. Als Ulrich ihr nicht zur Seite sprang, stand sie mit puterrotem Gesicht auf und verschwand eiligen Schrittes. In Mechthild breitete sich ein
warmes Gefühl aus. Am liebsten hätte die Gräfin ihrer Schwägerin für diese Ungeheuerlichkeiten eine schallende Ohrfeige verpasst, doch sie war unfähig, sich zu rühren. Für ihre Tat zollte sie Helena große Hochachtung, auch wenn es falsch
war, was diese getan hatte.

»Mechthild, das wird Folgen für deine Hofdame haben«,
ereiferte sich Ulrich, der insgeheim seine Geliebte für ihre Tat bewunderte. Nur konnte er das kaum zugeben. »Ludwig, das kannst du nicht dulden!«, wandte er sich an seinen Bruder.
»Helena wird eine angemessene Strafe erhalten«, antwortete Ludwig. Doch plötzlich breitete sich ein jungenhaftes Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Vielleicht erhebe ich sie dafür in den Adelsstand. An deiner Stelle würde ich darüber nachdenken, wie du gedenkst, deine Angetraute für ihre Boshaftigkeiten zu bestrafen.«

Mechthild war nahe daran, in ungezügeltes Gelächter auszubrechen, als Ulrichs Kinnlade herunterklappte. Nun war es an Ulrich, die Dürnitz zu verlassen.

Die Gräfin fasste nach Ludwigs Hand und drückte sie sanft.

»Ich danke dir. Nur leider wird es jetzt noch schlimmer mit
Margarete und Ulrich werden.«
»Nein, denn ich werde Ulrichs Wunsch entsprechen und
einer Teilung des Landes zustimmen. So kann es nicht weitergehen.
Ich werde mit ihm nach Nürtingen reiten und alles in die Wege leiten, damit ein gerechter Vertrag aufgesetzt wird."